Nacktes Mädchen in Couleur
Ich habe einen Vorschlag: Meine Freundin Nora stellt sich als Justitia mit Augenbinde und Couleur auf den obersten Absatz der Stiege! Aber der wirkliche Knaller ist: Nora trägt außer der Augenbinde, Band und Deckel nichts, gar nichts! Die nackte Justitia in Couleur!
Die gemütliche Bude der Studentenverbindung im geräumigen Dachgeschoß des alten Innenstadtpalais ist brechend voll wie meistens am Freitagabend. Die zahlreich erschienene Aktivitas sitzt mit Band und Deckel beim Bier und erörtert lautstark die neuesten Uninachrichten. Dazu erschallen aus sangesfreudigen Kehlen alte traditionelle, Studentenlieder: Gaudeamus igitur, iuvenes dum sumus ...
"Hört Euch das mal an" liest Audax mit empörtem Unterton aus der Zeitung vor: "ÖH will "Couleur"-Tragen an Uni verbieten. Die Österreichische HochschülerInnenschaft an der Uni Wien will ein Verbot des Tragens von 'Couleur' auf dem Gelände und bei Veranstaltungen der Universität erreichen. Ein entsprechender Beschluss wurde am Freitag bei der Sitzung der Uni-Vertretung gefasst. Außerdem soll der 'Burschibummel', das wöchentliche Zusammentreffen von Burschenschaftern an der Uni, untersagt werden."
"Typisch für diese linksgrüne Bagage", stimmt Paragraph in die Häme seines Kommilitonen ein. "Warum fordern die nicht gleich ein Totalverbot von farbentragenden Verbindungen? Statt Couleur nur mehr Sex and Drugs and Rock'n Roll!"
"Kommt schon noch!", brummt Perry in seinen Vollbart. "Na klar!", setzt Audax sein Zitat fort: "Außerdem verlangen die Studentenvertreter, daß die Uni 'öffentlich wirksam ein klares Statement gegen rechtsextremes und deutschnationales Gedankengut, den wöchentlichen Burschibummel sowie den Akademikerball' abgibt.
'Couleurs' werden die Zeichen der farbentragenden bzw. farbenführenden Studentenverbindungen genannt - vor allem die Mütze und das um die Brust getragene Band in den jeweiligen Verbindungsfarben." "Hinweis für Ahnungs- und Geschichtslose!" feixt Paragraph. Die anderen Farbstudenten lachen dröhnend.
"Dagegen unternehmen wir jetzt etwas! Das lassen wir uns einfach nicht mehr bieten!", schlägt Perry vor. "Studentenverbindungen müssen aktiv Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Nichts schadet dem Couleurwesen mehr, als an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Ein Aufruf zu weniger Stammtischmentalität."
"Klingt trocken, aber Gott sei Dank gibt‘s couleurstudentische Traditionspflege", pflichtet ihm Audax bei. Denn am Kneiptisch ist’s ja schließlich doch am gemütlichsten. Verbindung als Selbstzweck für die Mitglieder also? Auf den Buden werden laufend großartige Ideen geboren, die aber oft nicht einmal den nächsten Tag erleben. Vielleicht auch weil wir am liebsten nörgeln, uns empören, uns selbst beweihräuchern und unsere Opferrolle zelebrieren. Das alles kombiniert mit klassischer Vereinsmeierei bringt die Verbindungen in Gefahr zu einer sich selbst genügenden Randgruppe zu werden. Es gäbe für sie aber einen Auftrag: Speerspitze der konservativen Gesinnung mitten in der Gesellschaft zu sein!
"Nicht reagieren, sondern proaktiv agieren, ist die Königsdisziplin im Umgang Medien" meint Paragraph. "Das heißt nicht bei jeder Gelegenheit seinen Senf mittels Pressemeldung, die ohnehin kaum jemand liest, dazu zu geben. Es geht darum, in Kernfragen unserer Prinzipien an der öffentlichen Debatte teilzunehmen."
Der ÖH-Beschluß gegen Farbstudenten sickert unter den Anwesenden immer mehr durch und wird zum allgemeinen Budengespräch. Parolen wie 'Farbe tragen heißt Farbe bekennen' werden skandiert, die große Mobilmachung geplant.
Am nächsten Morgen folgt die nüchterne Reflexion der Lage: Wer ist besser im spontanen Aufstellen von hunderten Aktivisten? Wer scheut in der Öffentlichkeit keine Handgreiflichkeiten gegen Andersdenkende? Wer schreit lauter? Wohl eher die Linke.
Couleurtragen ist ein Grundrecht. Die ÖH verwendet, obwohl sie damit gegen autoritäres Gedankengut protestieren will, selbst autoritäre Mittel. Der Konflikt soll zwischen dem Kartellverband und der Hochschülerschaft stattfinden, eine Debatte um Burschenschaften und ihre allfällige Nähe zum Rechtsextremismus muß vermieden werden.
Man einigt sich, an die Presse zu gehen. Eine Mitteilung wird aufgesetzt. Bisher hat noch kaum jemand etwas von der Causa mitbekommen.
Die Presseaussendung geht Montagfrüh, wenn die ersten Redakteure ihren Dienst antreten, hinaus. Wenige Minuten später ein Telefonat mit der Presseagentur, um Hintergrund-Infos zu geben. In den Zeitungs-Diskussionsforen zeigt die vox populi starke Sympathien. Die Debatte um die politische Ausrichtung von Burschenschaften und nahestehende Verbindungen bleibt Randthema. Erst die wenig später von Burschenschaftern initiierte Facebook-Seite 'Bunt statt Rot' macht die Journalisten darauf aufmerksam.
Die Farbstudenten können mit ihrer Arbeit zufrieden sein. Dennoch sticht sie weiter der Hafer. Weil das Leben kurz ist und viel zu früh endet: Vita nostra brevis est, brevi finietur...
Audax stachelt die anderen an. "Diesen feministischen Gutmenschen sollten wir es mit ihren eigenen Waffen heimzahlen. Wir marschieren in voller Wichs vor der juridischen Fakultät auf und dekorieren die Statue der Justitia auf der Feststiege mit unseren Verbindungsfarben."
"Ich hab einen noch besseren Vorschlag", setzt Paragraph nach. "Meine Freundin Nora stellt sich als Justitia mit Augenbinde und Couleur auf den obersten Absatz der Stiege!" "Nicht schlecht!", lobt Perry die Idee. "Aber der wirkliche Knaller ist: Nora trägt außer der Augenbinde, Band und Deckel nichts, gar nichts! Die nackte Justitia in Couleur!", verkündet Paragraph stolz. "Als Kunststudentin ist sie Nacktmodeln ja ohnehin gewöhnt." Die Kommilitonen können sich vor freudiger Erwartung kaum noch zurückhalten: Vivant omnes virgines, faciles, formosae, ... "Na ja, Jungfrau?", meint Audax schmunzelnd.
Die drei Studenten machen sich auf den Weg zu Nora, die der Plan sofort ziemlich scharf macht. Nackt auf der Feststiege nicht nur vor anderen Kunststudenten, sondern vor Rektor, Senat, der versammelten Presse und den wütenden Gegendemonstranten der Linken, das hat schon was. Ihre ausgeprägte exhibitionistische Ader ist offenbar in der Verbindung inzwischen allgemein bekannt.
Nora braucht sich ja auch wirklich nicht zu verstecken mit ihrem durchtrainierten, sportlichen Körper, den schulterlangen lockigen blonden Haaren und perfekten Modelmaßen. Seit sie mit dem eleganten Jurastudenten Paragraph zusammen ist, geht der auch schon mal mit ihr auf heiße Parties, wo sexuelle Ausschweifungen, Orgien mit Partnertausch und der Konsum von verbotenen Substanzen noch die kleinsten Verstöße gegen das Gesetz darstellen.
Doch Paragraph bekommt plötzlich Angst vor der eigenen Courage. "Wenn die Sozen Nora aber öffentlich sexuell belästigen, ihr gar Gewalt antun wollen? Denen trau ich alles zu!" Audax beruhigt ihn mit dem Hinweis auf das zahlreiche Aufgebot von Chargierten in voller Wichs mit Schläger. "Die bekommen ordentlich eins aufs Maul, wenn sie so etwas versuchen sollten!"
Der Demonstrationszug der Farbentragenden durch die Innenstadt am Dienstag ist ein Medienereignis erster Güte. Zahlreiche in- und ausländische Journalisten und sogar drei Fernsehteams berichten live vom Aufmarsch der Burschen mit dem nackten Mädchen in Couleur.
Die Gegenkundgebung bewegt sich am Ring auf die kampfbereiten Farbstudenten zu. Gleich wird es zu ersten Schlägereien kommen. Nora merkt, wie sie beim Gedanken an raufende starke junge Männer feucht wird. Irgendwie steht sie ja im Mittelpunkt des testosterongetränkten Geplänkels. Sie ist das Symbol des Kampfes um die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre! Die Inkorporation der ewigen Gerechtigkeit!
Ein langhaariger Autonomer mit gestrickter Afrikahaube und Gesundheitsschlappen erblickt die nackte Nora zuerst. "Gar nicht so übel, was die rechten Recken da an geiler Weiblichkeit aufzubieten haben!", meint einer. Seine Freundin, die aus Solidarität mit ihren lesbischen Kolleginnen vom Verein Rosalila ein T-Shirt mit dem Aufdruck 'Alle Männer sind Schweine' trägt, wirft ihm einen vernichtenden Blick zu.
Die wütenden Proteste der Linken verstummen. Eine schöne nackte Frau in der Öffentlichkeit wirkt auf die Männer unter ihnen auch in Farben anziehend. Anerkennende Pfiffe gellen durch die Aula.
Der Rektor der Universität, Heinz Engl, betritt, aus dem Großen Senatssitzungssaal kommend, eiligen Schritts die Feststiege. "Obwohl Weihnachten vor der Türe steht und man sich zu diesem Anlass eigentlich etwas wünschen darf, gehen nicht alle Wünsche in Erfüllung, noch dazu wenn sie juristisch nicht haltbar sind", stellt er verklausuliert fest. Der Chor der Farbstudenten stimmt eine weitere Strophe an: Vivat academia, vivant professores!
Der Rektor wird den Burschenschaftern das Tragen ihrer Uniformen nicht verbieten. "Die Universität will und kann ihren Studierenden keine Bekleidungsvorschriften machen, solange sie sich im Rahmen der Gesetze bewegen", hält er in einem schriftlichen Statement fest. "Die Universität erwartet, daß alle Beteiligten etwaige Kontroversen im akademischen Diskurs - wie es der Rolle einer Universität entspricht - austragen und sich auf akademischem Boden so verhalten, dass es zu keiner Eskalation kommt."
Untermauert wird dies durch den Verfassungsjuristen Heinz Mayer, der in einem Gespräch mit der Tageszeitung 'Die Presse' aussagt, für so ein Verbot keine Rechtsgrundlage zu sehen. Weiters betont Mayer, daß für das Tragen von Band und Mütze in den Farben der einzelnen Studentenverbindungen auch etwas anderes spreche: "Das ist eine traditionelle Bekleidung, das gehört zur Uni. Ob einem diese Burschenschaften jetzt passen oder nicht." Pereat tristitia, pereant osores...
Nora und Paragraph lesen das Kommuniqué am Abend höchst amüsiert bevor sie jetzt endlich im Bett übereinander herfallen. In voller Wichs! Vivat academia!
Anm: Für die Übersetzung des Studentenliedes vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gaudeamus_igitur
Die Geschichte ist in einer älteren Fassung bereits 2014 auf SB erschienen.
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