Die nackte Schwimmerin
Wie eine griechische Statue steht die nackte junge Frau auf der Klippe, den Blick in die Ferne gerichtet, auf die endlose Weite des Atlantiks. Sie steht kerzengerade, streckt ihre straffen kleinen Brüste hinaus und spannt die Bauchmuskeln an. Ihre Nippel sind durch die kühle Morgenbrise steif. Vielleicht erregt sie ja auch die Erwartung auf den Sprung in die Tiefe?
Das Reids ist seit über hundert Jahren eines der weltweit führenden Hotels. Majestätisch throhnt es auf dem schwarzen Felsen über der Bucht von Funchal, umgeben von einem paradiesischen subtropischen Garten, in dem majestätische Palmen und vor Früchten strotzende Bananenstauden, orangerote Strelitzien und rosafarbene Proteas, malvenfarbene Jacaranda und schneeweiße Aaronsstäbe wachsen.
Berühmte Gäste hat dieses Haus im Laufe des 20.Jahrhunderts beherbergt. Churchill hat seine Kriegstagebücher hier geschrieben, Shaw das Tangotanzen erlernt. Der High tea hier ist noch immer eine Zeremonie wie zur Blütezeit des British Empires. Auf der Veranda mit dem Panoramablick servieren Kellner im weißen Dinnerjacket mit Fliege Sandwiches, Scones und Patisserien auf dreistöckigen Silberetagèren.
Unter der Veranda liegt der Pool mit den Sportanlagen und ganz am äußersten Ende der Klippe eine Aussichtsterrasse.
Im Ecksalon mit dem Konzertpiano, wo man nach dem Dinner zu Madeira und Sherry Konversation pflegt, hängen gerahmte Fotografien aus der goldenen Epoche in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts. Sie zeigen Hochseeyachten mit verwegenen Skippern, Autorennwagen mit Piloten mit runden Motorradbrillen und Lederhauben und muskelbepackte Schwimmer, die sich von der Felsenklippe mehrere Dutzend Meter in die Tiefe stürzen. Unter den Springern ist auch eine junge blonde Frau. Sie erinnert mich an Heidi.
Ich schließe die Augen und vor mir steht Heidi, nackt und mit dem frechen Lächeln auf den Lippen, das ich an ihr so liebe. Sie läuft zur Klippe, blickt hinaus auf das schäumende Meer, das vom Glanz der Abensonne vergoldet schimmert. Sie ruft mir zu: "Komm doch, der Sprung in die Tiefe von hier muß ein überwältigendes Erlebnis sein!"
Ich sehe ihren sportgestählten Körper, die langen muskulösen Beine, die straffen Pobacken, den flachen Bauch. Sie streckt die Arme aus, springt mehrmals auf der Stelle und ...
stürzt sich in die Tiefe!
Ich wache aus dem Tagtraum auf. Der Klavierspieler im Hintergrund läßt Etuden von Chopin erklingen. Ich halte meine Tasse goldgelben Darjeeling First Flush ohne Milch und Zucker in der Hand und schaue verdutzt in den Salon. Jetzt brauche ich einen doppelten Aguardente. Heidi hat mir einen ziemlichen Schreck versetzt. Aber zum Glück ist es nur eine Fantasie!
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