Meine erste Geschichte
Ich stehe vor dem Spiegel und bin erstaunt über die junge Frau, die ich sehe. Bin das ich? Nun, ich muss es wohl sein - trotzdem ist sie mir ein wenig fremd...
Noch vor wenigen Wochen hätte mich eine andere aus dem Spiegel angeschaut. Die Erinnerung an sie verblasst langsam, ist es tatsächlich erst einige Wochen her? Es kommt mir viel länger vor...
I
Das Spiegelbild Ende Mai des Jahres 201* zeigte eine sehr dünne junge Frau mit einer langen schwarzen Mähne, das ovale Gesicht von leuchtenden blaugrünen Augen und einem Nasenring verziert. Ich machte mich gerade zurecht, um ein wenig in der City herumzuhängen, ein paar Bier trinken, ein paar Kippen rauchen, Typen abchecken und mich vielleicht von einem mit nach Hause nehmen lassen. Es war Wochenende und Zeit für Fun!
Da es ungewöhnlich warm war, hatte ich mir ein schwarzes Trägershirt übergezogen, dazu schwarze Jeans und überlegte, welche Schuhe heute am besten wären. Boots oder vielleicht doch nur ein paar Sneaker. Versonnen blickte ich auf meine schwarzlackierten Zehen, die unter der etwas weit geschnittenen Hose vervorlugten und mir fiel diese dämliche Postwurfsendung wieder ein. Be Natural - Go Barefoot! Sonst stand nichts drauf und das Ding war umgehend im Papiermüll gelandet. Gott, was ging mir diese neuartige Anti-Mode-Bewegung auf den Geist, den Flyern dieser Trottel konnte man inzwischen fast nicht mehr entgehen und schaffte man es doch, dann war irgendwo ein Pro-Nackt-Graffiti oder der Email-Eingang quoll über vor Unterschriftensammlungen zur Legalisierung von Nacktheit in der Öffentlichkeit.
Okay, als freiheitsliebender Mensch verdienten die ja eigentlich meine Unterstützung, aber Fundamentalisten zu unterstützen war nicht meine Sache. Nackt auf die Straße gehen zu wollen war eins, aber Sachbeschädigung in Modeboutiquen und neuerdings der Diebstahl von Kleidung - so ausgeprägt war mein Clothes-Ripping-Fetisch dann doch nicht (wobei ich es natürlich genoß, als mein letzter Freund mit seinem Klappmesser an meinen BH-Trägern herumschnibbelte, das sei zugegeben).
Barfuß in die Stadt? Sowas machten doch eigentlich nur Asoziale, oder? Aber die hatten in der Regel keine perfekt lackierten Nägel. Verschwommen erinnerte ich mich, wie mir im letzten Sommer in der Stadt einer meiner Absätze abgebrochen war. Da Alkohol mutig macht und es ohnehin bereits dunkel war, war ich notgedrungen barfuß vom Biergarten nach hause gelaufen. Das war doch eigentlich ein angenehmes Gefühl damals, vor allem in Verbindung mit der eigentlich irrationalen Vorstellung, etwas Verbotenes zu tun. Hoffentlich sieht dich niemand! Und noch wichtiger: hoffentlich erkennt dich niemand! Warum eigentlich, es waren doch nur ein paar Füße...
Das Kopsteinpflaster in der Innenstadt war vom Tag aufgewärmt und bildete einen reizvollen Kontrast zu den kühlen Fließen im Treppenhaus. Mein Magen schlug Purzelbäume und ich fragte mich zum wiederholten Mal, was ich da eigentlich machte. (be natural - go barefoot!). Im Straßencafe war es drängend voll und zahlreiche Passanten waren unterwegs, meine Barfüßigkeit schien aber niemand zu bemerken. Daß 90% der Frauen Flip-Flops trugen hatte also doch noch wenn schon keinen nennenswerten ästhetischen Wert einen Vorteil. Unschlüssig ging ich ein paar Schritte zurück: an dem einen Tisch saß nur ein gar nicht mal übel aussehender Typ, rauchte (Rauchen ist in dieser Gesundheitsfaschistischen Zeit ja schon fast ein Zeichen von Rebellentum, das gefiel mir) und nippte ab und zu an seinem Weißbier.
Kurze Zeit später saß ich bei ihm, laberte über Dieses und Jenes, stellte einige gemeinsame Vorlieben fest und war trotz meines immer noch flauen Magens zum zweiten Mal an diesem Abend stolz auf mich.
"Wo hast eigentlich deine Schuhe gelassen?" Bumm! Da war die Frage, er hatte es also doch registriert. Daß er so lange nicht danach gefragt hatte sprach für seine Höflichkeit, in Verbindung mit ein wenig Rebellentum machte ihn das noch sympathischer. Aber was antworten?
"Ich hab keine Schuhe." Von allen möglichen dummen Antworten so eine Eselei! Ich hätte doch einfach sagen können, daß ich an diesem Abend einer spontanen Eingebung folgen einfach barfuß ausgegangen war. "Cool!"
"Meinst du?" - "Ja," er grinste "weißt du, ich mag das. Sieht man ja leider nicht allzuoft, seit alle diese Fip-Flops tragen. Die Dinger sind mal echt das letzte, das Geräusch beim Laufen und dann dieser seltsame Watschelgang, den die meisten damit haben. Barfuß läuft ne Frau eher wie ne Raubkatze, ich habe das schon von weitem festgestellt, als du vorhin nach einem Platz gesucht hast -- ich bin aber kein Fußfetischist oder so, der davon Fotos macht um sie ins Internet zu stellen..." Dieser etwas trockene Humor gefiel mir auch und das Thema schien erledigt, als die Bedienung die nächste Runde Getränke brachte.
Samstag morgen. Ich erwachte wie erwartet mit einem leichten Kater, egal, als etwas undamenhafte Biertrinkerin musste ich wenigstens nicht so leiden wie meine Freundinnen nach einer cocktaildurchzechten Nacht. Das Handy zeigte eine SMS an. "Lust auf Kino?". Stimmt, wir hatten ja vorgehabt uns wieder zu treffen. (ich hab keine Schuhe. Be natural - go barefoot.) Ach du meine Güte!
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Er wartete an der Kinokasse. Trotz meiner Bedenken und obwohl ich die Sache den ganzen Tag hin- und hergewälzt hatte, hatte ich zugesagt. Es war etwas kühler als am Vortag, so daß ich mir eine leichte Jacke übergezogen hatte, dazu Bluejeans und ein schwarzes Top. An den Füßen hingegen trug ich nur einen Zehenring, den ich mir in aller Eile noch gekauft hatte. Trotzdem kam ich mir wie ein bunter Hund vor, etliche Leute musterten mich komisch (oder bildete ich mir das nur ein?). Im schien es jedenfalls zu gefallen, daß ich schuhlos über den etwas rauhen Teppichboden stolzierte. Im Kinosessel meinte er: "Allzulange bist du aber noch keine Barfüßerin, oder?" - "Warum?" - "Naja, warst vor dem Kartenabreiße ziemlich schüchtern und auch jetzt scheinst du krampfhaft zu vermeiden, die Beine übereinanderzuschlagen, dabei ist doch das Licht aus." Ich überlegte eine Antwort, war kurz davor, ihm zu beichten, daß ich eigentlich nie barfuß unterwegs war und eigentlich nur wegen ihm eine Ausnahme machte, aber ich kam nicht dazu. "Machs dir doch einfach bequem. Willst Popcorn?"
Der Film war Quark und danach hingen wir noch ein wenig in einer kleinen Bar ab. So langsam fehlten mir meine Schuhe selbst an so ungewöhnlichen Orten nicht mehr wirklich, wenn mir auch ein wenig vor der Toilette grauste, die sich zum Glück als sauber herausstellte. Ich saß neben ihm in seinen Arm gekuschelt und genoß seine Gegenwart. Ich konnte mir in diesem Moment ernsthaft eine Beziehung mit ihm vorstellen (ich hab keine Schuhe aber einen Freund der das mag).
"Was hälst du eigentlich von diesen Anti-Mode-Terroristen?" riss er mich aus meinen Gedanken. "Hmmm, naja, sind eben Spinner...". "Schon..." murmelte er. Jetzt war ich neugierig! "Schon... aber?" fragte ich.
"Naja, von so einer hübschen nackten Terrormieze würde ich mich gerne mal ausziehen lassen." Er lachte, aber es war ihm anzumerken, daß er mit großer Wahrscheinlichkeit eine Erektion hatte. "Du würdest es wohl nicht beim Ausziehen belassen, du Schuft!" stellte ich lächelnd fest.
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Die relativ ereignisarmen nächsten Tage erspare ich dem geneigten Leser, denn der Arbeitsalltag einer Bürokraft erscheint mir wenig spektakulär, insbesondere wenn sie vollständig bekleidet ist. Interessanter war dann schon der Freitagnachmittag, denn er wollte mich nach zahlreichen verliebten SMS und einigen Telefonaten besuchen kommen. Das bedeutete konkret: Die Schuhe mussten weg! Sicherheitshalber packte ich auch sämtliche Socken und Feinstrumpfhosen mit dazu und verstaute zwei große Müllsäcke im Keller. Ich fragte mich, wie lange ich dieses Spiel eigentlich noch weiterspielen wollte, gleichzeitig gefiel mir die Sache aber immer besser. Irgendwo im Hinterkopf manifestierte sich sogar eine dunkle Idee, wie ich es gerne weitertreiben würde. Demonstrativ ließ ich einen Flyer mit dem Aufdruck "Kleidung ist prüde" auf dem Wohnzimmertisch liegen, den er aber entweder nicht bemerkte oder absichtlich übersah.
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II
In der folgenden Zeit begann ein für mich ungewöhnliches Doppelleben. Im Job war ich wie immer, aber kaum aus dem Büro wanderten die Schuhe in die Tasche, Strümpfe trug ich inzwischen gar keine mehr. Ich probierte ständig neue Untergründe aus, stellte Fest, daß man nach einem Besuch im Supermarkt fast genauso schwarze Sohlen bekam wie in einer Tiefgarage (soviel zur Hygiene dort) und - ich beschäftigte mich im Internet verstärkt mit Nacktheit und FKK allgemein sowie mit der Anti-Mode-Bewegung im besonderen. Ich fing sogar an, mich in der Wohnung grundsätzlich nackt zu bewegen ohne - vermutlich zur Freude der Nachbarn - auf verrammelte Fensterläden zu achten. Schließlich weitete ich mit einigem Herzklopfen die textilfreie Zone auch auf den Balkon aus und wurde tatsächlich nicht aufgefressen.
Meinem Freund gefiel diese Freizügigkeit beinahe noch mehr als mir selbst. Als ich ihm zum ersten Mal nackt bis auf einige Schmuckstücke (Nasenring, Nippelpiercing und Zehenring) die Türe öffnete und "Überfall!" brüllte, wedelte er wie ein braves Hündchen mit dem Schwanz. Daß wir es beim Sex nichtmal mehr ins Bett schafften, sondern mit dem Wohnzimmerboden vorlieb nahmen, dürfte einleuchten.
Auf das für mich bedeutsamste Ereignis hatte ich jedoch keinen Einfluß...
Tatsächlich war es einigen der gemäßigteren Nacktivisten gelungen, einen Präzedenzfall zu schaffen, so daß sehr zum Zähneknirschen konservativer Geister öffentliche Nacktheit generell erlaubt wurde. Dies hatte allerdings nicht den erwünschten Effekt, die illegalen Umtriebe der radikaleren Modeverächter einzudämmen, sondern ermunterte sie zu immer dreisterem Vorgehen. Es schien ihr erklärtes Ziel zu sein, durch möglichst großflächige Aktionen sicherzustellen, daß auch möglichst viele von der neuen Freiheit gebrauch machten.
Zwei Tage, nachdem mein Freund mir den Zeitungsartikel über die neue Rechtslage gezeigt hatte, war ich noch unentschlossen. Ich wusste, wie sehr ihm die Vorstellung gefiel, in Begleitung einer Nudistin auszugehen, vielleicht sogar selbst dabei auf Kleidung zu verzichten (er war allerdings trotz seines trainierten Körpers zu schüchtern, als daß ich ihm derartiges zugetraut hätte - und ehrlich gesagt war mir das auch ein wenig unheimlich, von allen angegafft werden zu können, so sehr ich meine Nacktheit im Schutze meiner Wohnung und beim Sonnen auf dem Balkon auch genoß).
Jedenfalls brauchte es in meinem Fall einige schwer bewaffnete Nacktbader, um mein Doppelleben zu beenden...
III
Ich wollte an diesem Tag eigentlich gar nicht shoppen gehen. Dummerweise hatte es aber im Büro einen dummen Zwischenfall mit Druckerschwärze gegeben, so daß mein rotes Top ruiniert war. Statt diese Chance auf einen Oben-Ohne-Auftritt im Büro zu nutzen ging ich allerdings in der Mittagspause brav in ein nahegelegenes Einkaufszentrum, um mir einen Ersatz zu beschaffen.
Als ich zufrieden aus der Umkleidekabine kam, um das ausgewählte Oberteil zu bezahlen, dachte ich nur noch: es ist soweit! Im Laden herrschte pures Chaos. Entsetzte Kundinnen und Verkäuferinnen rannten wild durcheinander, verfolgt von einigen nackten Männern und Frauen, die mit Pistolen herumwedelten. Eine Frau packte mich und der Rest ging blitzschnell. Noch bevor der Alarm losging war die Meute wieder verschwunden und hatte zwei nackte Verkäuferinnen und 5 Kundinnen inklusive mir hinterlassen. Daß es im ganzen Geschäft kein einziges tragbares Kleidungsstück mehr gab, dürfe klar sein. Instinktiv war ich wie meine Leidensgenossinnen auf den Boden gekauert, einen Arm vor der Brust, die andere Hand vor dem Intimbereich. So überaschend die Kleidung vom Leib gerissen zu bekommen war dann doch eine ganze Nummer beschämender, als ich mir das vorgestellt hatte. Als ich mich jedoch kurz gesammelt hatte, stellte ich fest, daß ich doch in den letzten Wochen auf genau diesen Punkt zugesteuert war. Klar hatte ich nackt immer mit peinlich gleichgesetzt, doch ab dem Augenblick, an dem ich entschloß, die Schuhe daheimzulassen, war doch rückblickend schon klar, auf was die Sache hinauslaufen würde. Für diese 5 Ziegen, die da um ihre Klamotten wimmerten, fühlte ich plötzlich nur noch Verachtung.
Einen meiner High-Heels, die ich im Büro trug, hatten die Nacktivisten vergessen. Ich zog ihm vom Fuß und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen, dann hob ich meine Handtasche auf, zündete eine Zigarette an (Scheiß aufs Rauchverbot! a. wurde ich gerade überfallen und b. hatte ich soeben gewissermaßen ein neues Leben begonnen) und rief im Büro an, um mitzuteilen, daß es länger dauern könnte.
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Es dauerte länger. Nach geschlagenen vier Stunden hatte die Polizei alles zu Protokoll genommen und ich hatte ebenso auf eine angebotene Notbekleidung verzichtet wie auf eine Anzeige. Danach hatte ich für den Rest des Tages freigenommen und war mit einem herrlichen Kribbeln im Bauch betont langsam nach Hause gelaufen. Es war herrlich, so im Mittelpunkt zu stehen, einige Bauarbeiter hielten in der Arbeit inne und pfiffen mir hinterher, eine Mutter hielt ihren Kindern die Augen zu, ein leichter Wind strich um meinen Körper. Dazu warmer Asphalt und Kopfsteinpflaster unter den Sohlen, was mich an meine erste Begegnung mit meinem Freund erinnerte. Nun, heute hatte ich eine Überaschung für ihn.
Wir saßen am abend bei ihm im Garten um ein kleines Lagerfeuer. Versonnen roch er an einem meiner Slips. "Bist du sicher?" fragte er. "Wirf ihn schon endlich rein! Heute beginnt für mich ein neues Leben und das werde ich nur noch in diesem wunderschönen und kostenlosen Birthday-Suit verbringen." - "Und im Winter?" - "Da laß' ich mir was einfallen..."
Ich stehe vor dem Spiegel und bin erstaunt über die junge Frau, die ich sehe. Bin das ich?
Die Antwort: ja, das bin ich. Pur. Ohne Maskerade. Be natural - go barefoot. Bis zum Hals.
Kommentare
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Hey, ich finde deine Geschichte total toll! Gibt es noch mehr davon? :)
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