Der Reigen
Das nackte Mädchen läuft atemlos über die duftende Sommerwiese. Im Hintergrund erhebt sich majestätisch die steinerne Kulisse der Preiner Wand im Abendlicht. Der Graf schaut ihr versonnen nach. "Ein süßes Mädel, wirklich!", denkt er.
Premierenfeier bei den Sommerfestspielen. Arthur Schnitzlers einst verpöntes Stück "Der Reigen" ist ein großer Erfolg beim Publikum. Die Kritik wird dementsprechend euphorisch ausfallen, wenn man den Pausengesprächen trauen darf. Die große Sommerhitze bei der Nachmittagsvorstellung heizt die Gäste noch zusätzlich auf.
"Eigentlich geht es beim 'Reigen' nur um Sex, Sex, Sex", empört sich eine mit teurem Schmuck behängte Dame der "besseren" Gesellschaft. "Geht es im Leben nicht immer nur um Sex?", antwortet ihr Begleiter mit feinem Sarkasmus. "Sex hat man vielleicht! Aber man spricht nicht dauernd darüber! Und schon gar nicht gehört das auf die Bühne! Das ist ja wie bei den Tieren!", schimpft sie weiter. "Aber hingesehen hast Du schon ganz genau, oder nicht? Du hast doch immer gewußt, worum es in der heutigen Vorstellung geht, meine Teuerste.", legt er nach. Statt einer Antwort wirft sie ihm einen vernichtenden Blick zu und schlürft weiter ihren Champagner.
Zur Zeit seiner späten Uraufführung 1920 höchst skandalträchtig, hat sich heute die allgemeine Aufregung um diesen erotischen Bilderbogen gelegt, das Interesse ist aber unvermindert lebendig, da sich die Menschen und ihre sexuellen Wünsche und Versuchungen niemals ändern.
Die Kritiker plaudern auch weit weniger über das Bühnengeschehen als über ihre Urlaubspläne und über den Ausklang des Premierentages. Es ist schließlich der 4.Juli. "Heute wäre ein großartiger Tag für ein Picknick im Freien und dann das Feuerwerk am Abend.", findet der Feuilletonist des Tagblatts. "Wir werden es doch hoffentlich beim Empfang nachher gut sehen!", hofft sein Kollege vom Neuen Kurier. "Die Aussicht von dort oben ist ja märchenhaft! Der Landeshauptmann kommt auch und die ganze Haute-Volée aus der Stadt!"
Aber die Festspiele bieten ja seit vielen Jahren auch alles auf, was an den großen Wiener Bühnen Rang und Namen hat. Und genau das will das verwöhnte Publikum auch in der Sommerfrische sehen. Und heuer zum 150 Geburtstag des Genius loci hat man sich besonders angestrengt!
So spielen Miguel Herz-Kestranek den Grafen, Petra Morzé die Schauspielerin und Katharina Straßer das "Süße Mädel".
Die entspannte Ferienstimmung, die schöne Landschaft, die gute Luft und nicht zuletzt das Gefühl, daß der Dichter selbst hier eine berühmte Sommerliebe erlebt hat, sorgen für eine ganz besondere Atmosphäre.
***
Jetzt nach der erfolgreichen Premiere lassen die Künstler und geladene prominente Gäste beim Empfang Dampf ab. Es ist sehr schwül. Ein Gewitter steht über der Bergwand. wo sind die Zeiten als es in der Sommerfrische noch kühl und angenehm war?
Eine kleine Herrengruppe steht auf der Aussichtsterrasse des Knappenhofs auf etwa 1000 m Seehöhe, die halbvollen Gläser mit erfrischendem Grünen Veltliner vom Wagram in der Hand. Die Umgebung ist noch ganz genau so wie vor 100 Jahren, das stilvolle alte Berghotel aus der Zeit der Monarchie, das atemberaubende Panorama über das weite Tal ohne störende Industrieanlagen oder häßliche Bauten aus der jüngeren Zeit.
Die Herren reden sehr wohl über den Inhalt des Premierenwerks und seine animalische Auffassung von Sex.
"Was für eine ungeschminkte, ja brutale Darstellung der Sexualität!", kommentiert der Graf den "Reigen", "Und das Stück ist aktuell wie eh und je. "One night stands" sind ja immer noch sehr in."
Im vorletzten Wiener Fin-de-Siècle erleben dort zufällig aufeinander treffende Männer und Frauen aller sozialen Schichten vom Proletariat bis zur Aristokratie diesen "one night stand", der dem Zuschauer allerdings immer verborgen bleibt. Heute ist man da schon weit weniger standesbewußt. Und natürlich viel offener über soziale, ethische und Geschlechtergrenzen hinweg.
"Es gibt aber auch Aufführungen, bei denen die Schauspieler auf offener Bühne kopulieren!", entgegnet der Ehegatte.
"In jeder Paarung steckt Sehnsucht, Verführung, Enttäuschung und Verlangen – aber auch der Spaß, der zu diesem Liebesakt dazugehört.", ergänzt der Junge Herr.
'Der "Reigen" ist Schnitzlers Abrechnung mit der Doppelmoral und dem verlogenen Umgang mit der Sexualität; "ein Porträt einer ganzen Stadt und ihres Menschenschlags, wie er sich in einem bestimmten Zeitpunkt der Reife und Überreife auslebte". (Egon Friedell)', liest der Dichter aus dem Programmheft vor.
Da sieht der Graf plötzlich das süße junge Mädchen völlig nackt über die Bergwiese laufen. Ihre hüftlangen blonden Haare wehen hinter ihr her. Der stärker werdende Wind vor dem Gewitter umspielt die schlanke Figur. Ihre durchtrainierten Oberschenkel spannen sich in der Bewegung an, die festen Brüste schwingen, die kleinen Arschbacken geben den Blick auf die Spalte ungehindert frei.
"Wer ist das süße Mädel?" fragt der Graf die anderen. "Kennt ihr sie vielleicht?"
"Sie ist das süße Mädl!" zitiert der Ehegatte lächelnd Schnitzler. "'Sie ...? Sie ..., das süße Mädl!', wie schon Anatol es beschreibt. Einfach ein Mädel aus der Gegend, ein fesches!"
"Das ist jetzt, wie sagt Gabriele? 'Wo Sie nur die Ironie herhaben!!'", antwortet der Junge Herr. "Sie hat eine natürliche Anmut!", finde ich.
"Ich habe sie ja nicht gestern im Heu verführt, mein Lieber!", kontert der Ehegatte.
"Touché", grinst der Junge Herr.
Er denkt mit kaum verborgener Lust an das gestrige erotische Abenteuer mit der kleinen Schönheit vom Lande. Sie war beeindruckt, daß sich der jugendliche Held, Mitglied des berühmten Wiener Ensembles, mit ihr unterhalten wollte.
Er hat ihr einen größeren Geldschein in den offenherzigen Ausschnitt der Dirndlbluse gesteckt, ihr tief in die hellblauen Augen geschaut und geflüstert. "Du hast ja jetzt bald Schluß hier! Wir treffen uns um genau halbzwölf Uhr vor dem alten Heuschober."
Ihr strahlendes Lächeln hat als Antwort genügt. Und sie ist gekommen. Pünktlich auf die Minute.
Sie haben sich geküßt. Einmal, zweimal, dann hat er ihre Brüste berührt, ihr die Schürze geöffnet, dann die Dirndlbluse. In zwei Minuten ist sie splitternackt im Heu gelegen. Ihre Nippel sind sofort steinhart geworden.
Er hat ihr zwischen die Schenkel gegriffen, hat die Feuchtigkeit gespürt. Unglaublich geil ist er geworden. Und dann hat er sie genommen. Hart und direkt, Sex ohne Liebe.
Du träumst ja, Junger Herr!", reißt ihn der Ehegatte abrupt aus seinen erotischen Erinnerungen.
Das Mädchen läuft weiter bis zum Heuschober. Es weiß, daß die Herren auf der Terrasse sie sehen können, wenn sie in ihre Richtung schauen. Sie fürchtet sich vor dem Gewitter, darum läuft sie so schnell sie kann ohne auf die Zuschauer zu achten.
Ein Blitz zerreißt dem bleigrauen Himmel. Die Nackte in der Wiese ist für einen kurzen Augenblick wie von einem Scheinwerfer beleuchtet. Gleich darauf folgt der Donnerschlag.
"Mein Gott, welche Grazie!", meint der Graf anerkennend.
Ein Wolkenbruch zwingt die Herren ins Haus.
***
Sie setzen sich zu viert an einen gemütlichen Ecktisch, heilfroh nicht weiter von schützenden Haus weggegangen zu sein.
"Wie sie wissen sind sich Arthur Schnitzler und Olga Waissnix, Wirtin im Thalhof, 1886 im Südtiroler Kurort Meran das erste Mal begegnet." beginnt der Dichter zu erzählen. "Diese unglückliche aber süße Liebe hat Schnitzler in seinen Briefen meisterhaft zum Ausdruck gebracht. Hört doch!"
Er beginnt vorzulesen:
'Vernünftig, das heißt bei mir wahnsinnig ... Könnten Sie mir nicht ein paar Zellen schreiben, die glückselig machen -- einen, den die Trennung von Ihnen halb närrisch macht?" So oder ähnlich hat Arthur Schnitzler, in mehr als hundert Briefen, die "wunderbare" Olga Waissnix, Freundin seiner "Jünglingsjahre", bestürmt. Doch wieder und wieder weist sie ihn ab: "Ich wäre solcher Leidenschaft nicht fähig ... Kennen Sie das Wort meschugge?"'
"Ja, das ist aus dem berühmten Briefwechsel, 'Liebe, die starb vor der Zeit', wenn ich es recht behalten habe.", erweist sich der Graf als Kenner.
"Ganz richtig, Graf!", liest der Dichter weiter: 'Noch auf der Höhe seines Ruhms, als er, ein Mittfünfziger, seine Memoiren schrieb, findet sich der Arzt und Dichter Schnitzler, in diesem Briefwechsel "am ungetrübtesten" gezeichnet. Überaus sorgsam hat er ihn dann wohlgeordnet für die "brave Nachwelt" bewahrt -- und so ist er ihr 1970 zugänglich gemacht worden: Unter dem Titel "Liebe, die starb vor der Zeit" ist der Briefwechsel erschienen, eine delikate Lektüre und mehr als das: "Vieles, wenn nicht alles" über die "Naturgeschichte des Genies" (Vorwort-Autor Hans Weigel)*.'
"Na bitte!", ist der Graf stolz. "Hab auch alles Mögliche von und über Schnitzler gelesen für diese Premiere. Man will ja Hintergrundinformationen haben, damit man sich in den Dichter hineinversetzen kann."
Der Dichter setzt seinen Bericht fort:
"Seit er in Meran dies "Abenteuer meines Lebens" angesponnen hatte, glaubte Arthur Schnitzler, den "Duft von Ewigkeit" zu spüren. Olga, Gattin eines Hoteliers, in dessen "Thalhof" die Creme der k. u. k. Gesellschaft verkehrte, schien ihm die Verkörperung des Musischen par excellence. Als Olga, enthusiasmiert von der Lektüre, das Manuskript seines Einakters "Episode" eigenhändig in Schönschrift kopierte, glaubte der Dr. med. Schnitzler, erstmals in seiner Schriftsteller-Karriere, "daß ich's kann"'
"Wahre Liebe!", wirft der Ehegatte ein. "Bei Künstlern geht die durch die Anerkennung für das Werk, nicht durch das Herz!"
"Hört weiter, jetzt wird's erst dramatisch!", fällt ihm der Dichter ins Wort: 'Doch eine "heilige Angst vor Demütigungen" läßt die Hoteliersgattin mit "Brosamen" der Liebe vorliebnehmen, wo sie doch -- "ja, ja, ja mal 1 000 000" -- allzugern sich "satt" gegessen hätte; denn Ehemann Waissnix weiß alles. Er reagiert mit Tränen und Nervenkrisen, vor allem mit Hausverboten und Duell-Drohungen an "Herrn Dr. Leutnant Schnitzler".'
"Ja, das Duell, Leutnant Gustl, die Monarchie, tempi passati", seufzt der Graf.
Im "Reigen" der geneigteren Helenen, Lolotten und Mizzis bleibt "Madame" Waissnix für Schnitzler so die einzige, die den Schriftsteller niemals vom Liebhaber zum Geliebten avancieren läßt. Nie verwunden, wird die "ewige Vergeblichkeit" von Schnitzlers Liebesmüh aber auch zum immer neu variierten Thema seiner psychologisch feinsten Erzählungen und Bühnenstücke. Schnitzler: "Zuerst war die Natur, dann kam die Novelle."
"So geht's mir auch!", grinst der Dichter. "Man stelle sich vor Olga hier nackt auf der Wiese! Undenkbar!"
"Aber wir hätten ein paar unsterbliche Werke der Weltliteratur weniger!", stellt der Ehegatte fest. "Schnitzler und Olga hier auf der Wiese beim Sex. Oder im Heuschober wie manche von uns!", zwinkert er dem Jungen Herrn zu.
'Ein elegant dekadentes Geschöpf, so recht nach Schnitzler-Gusto, melancholisch, doch ironisch, und kokett, doch fast anrührend demütig, hat sich Olga Waissnix denn auch in ihren "Wischen" an den "Stimmungsfex" selbst beschrieben. Da scherzt und klagt sie zugleich über ihre Schwäche für "Flirtation", da spottet und schwärmt sie über ihre "geliebten" Parfums, schildert sie sich im Sommerkleid auf Streifzügen durch herbstliche Wälder, "eskortiert" von Erzherzögen, Baronen und Bankiers, die sie heimlich durchs Fernrohr "adorieren". Wohlgezielt träumt sie von versäumten Sünden als "Sklavin" statt Herrin ihres "verwöhnten Lieblings".'
"Doch eine andere Zeit!", sinniert der Graf.
'"Gänzlich ohne Pose" mag freilich auch der nicht korrespondieren. Schnitzler erläutert ihr seine Psychologie eines "Blasirten" und dramatisiert seine Briefe mit kunstvollen Mißverständnissen. Als Olga Waissnix 1897 kaum 35jährig an der Schwindsucht stirbt, notiert der Schriftsteller: "Meine Erschütterung war geringer, als ich hätte denken müssen."'
"'Es war, wie wenn Eleonora Duse sagt: oh –!', schreibt Peter Altenberg über das traurige Gesicht eines Mädchens", wirft der Ehegatte ein.
"Der Engel sagte: 'Das kann Niemand wissen ', meint der Dichter.
* Arthur Schnitzler und Olga Waissnix: "Liebe, die starb vor der Zeit". Verlag Fritz Molden, Wien.
SCHRIFTSTELLER / SCHNITZLER-BRIEFE, DER SPIEGEL 45/1970
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44303128.html
Kommentare
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