Er
Er
Die Kerzen waren verteilt. Sie durfte nicht vergessen, neue Teelichter zu kaufen, die Packung war fast leer. Hier am Fenster auf dem kleinen Tisch, da müssen drei stehen, sonst kommt zu wenig Licht von vorn. Ob er heute wieder kommt? Warum sitzt er fast jeden Abend da drüben auf dem Baum? Er denkt noch immer, sie kann ihn nicht sehen. Doch die alte Weide ist weg, hinten im Garten, der Sturm im Winter hatte sie gefällt. Sie war alt und knorrig und morsch. Seitdem sieht sie die Lichter vom Tennisplatz der Nachbarn durch die nachts schwarzen Blätter der Buche glitzern. Und sie spielen oft, die Nachbarn, beinahe jeden Abend.
Es ist fast dunkel, gleich wird er kommen! Wenn er kommt. Da! Er scheint über die Wiese zu fliegen wie ein Schatten. Wie kann das sein? So schnell? Wer kann so schnell laufen? Und wie er am Stamm hoch geht. Wie eine Katze. Nein, er ist viel schneller! Wie kommt er über die Mauer? Die ist doch so hoch! Egal.
Er denkt, sie kann ihn nicht sehen. Doch die Nachbarn spielen wieder Tennis heute Abend. Plopp plopp plopp … plopp ... Man kann sie sogar hören. Ihr Badfenster steht offen, es war ein warmer Tag. Da sitzt er, auf seinem Ast mit seinem Umhang. Ist ihm nicht zu heiß? Er ist nur ein Schatten. Die Kerzen brennen schon, er kann sie sicher gut sehen, wie jeden Abend. Jeden Tag eine Wanne voll Wasser. Der Mann macht sie arm, als Studentin hat sie nicht viel Geld. Doch wenn sie nur duscht, kommt er vielleicht nicht mehr. Der Schatten im Baum, er bewegt sich. Er muss schon sehr oft da gesessen haben, die Rinde auf dem Ast ist schmutzig und abgewetzt. Sie hatte gestern Mittag eine Leiter an den Ast gelehnt und nachgesehen. Wie lange beobachtet er sie schon? Seit der grüne Van mit den schwarzen Scheiben hier in der Straße parkt? Immer vor einem anderen Haus. Sie fühlte sich erst beobachtet, dann verfolgt. Hier ein Schatten, da das Gefühl eines Blickes im Nacken. Drehte sie sich um - nichts, niemals. Manchmal ein Windzug. Sein Atem? War er das immer? Dann, später, der Schatten im Baum. Schrecken! Angst! Ein Spanner? Er saß immer nur da, jeden Abend, wenn es dunkel wurde.
Gewöhnung. Er fehlte ihr auf einmal, der Schatten, wenn er mal nicht im Baum war. Die Nachbarn spielten auch nicht immer Tennis. Sitzt er im Baum? Sie zog die Zeit im Bad in die Länge. Ging näher ans Fenster. Blieb immer länger ohne Sachen, nackt! Für ihn, nur für ihn. Mehr Kerzen, mehr Licht. Kann er sie jetzt besser sehen? Was will er von ihr? Komm, sprich mit ihr. Sie spürte seine Augen auf der Haut. Es kribbelte im Bauch. Jeden Tag ein bisschen mehr. Es tut gut, er schaut nur auf sie, auf keine andere. Er kommt oft, nur wegen ihr. Warum? Er spricht sie nie an.
War er das heute in der Bibliothek? Der blasse Mann, groß, die Haut wie Pergament? Er saß neben ihr, die Haare schwarz und lang, er schaute sie die ganze Zeit an, sah gut aus. Das Buch vor ihm lag auf dem Kopf, er hat es nicht einmal bemerkt, aber sie, hi hi.
Warum war er dann dort, neben ihr? Nicht zum Lesen, das konnte sie sehen. Er schnüffelte immer wieder in ihre Richtung. Roch sie schlecht? Nach Schweiß? Nein, sie roch nie nach Schweiß. Auch ohne Deo. Wenn man nichts verträgt außer Veilchenöl und Lavendel, ist es schwer, gut zu riechen. Sie bekommt immer Pickel, wenn sie was anderes nimmt. Doch er riecht nach … nichts. Nicht nach Aftershave, nicht einmal nach alten Socken, gar nicht. Sie hat es genau gerochen! Sie ging hinter ihm vorbei, als er noch auf dem Stuhl in der Bibliothek saß, er roch nach nichts, gar nichts.
Jetzt sitzt er wieder da, auf seinem Ast. Sein Blick geht sicher zu ihr. Sie dreht die Wasserhähne zu, steigt in die dampfende Wanne und summt die Musik der CD. Lange darf sie nicht bleiben, in der Wanne, sonst geht er vielleicht. Er kann sie nicht sehen, so tief in der Wanne. Schnell waschen.
Die Kerzen am Fenster flackern und rußen. Gleich kann er sie wieder gut sehen. Sie hebt ihm die Brüste entgegen. Schau! Komm her! Fass sie an! Sie will es so sehr! Sie spürt, wie die Spitzen sich erheben. Ein sanfter Schauer rieselt durch ihren Leib. Bitte, komm her! Warum kommt er nicht zu ihr? Sie wartet doch so sehr! Traut er sich nicht? Ist er zu schüchtern? Oder doch pervers? Egal, komm endlich! Es ist ihr egal, wer er ist! Sie hält es nicht mehr aus.
Verdammt, das Telefon. Mutter! Immer im falschen Moment. Immer die gleiche Frage: Was gibt es Neues? Nichts! Was soll es hier schon Neues geben? In diesem Kaff.
Sie schaut. Er sitzt da wie immer, nichts Neues. Er kommt nicht zu ihr!
Nein, nichts Neues, Mama. Es geht mir gut. Sie wirkt genervt.
Sie steht ganz nah an der Scheibe. Ja, er ist noch da. Oh, sie muss einen halben Schritt zurück! Das Licht! Er kann sie sonst nicht richtig sehen. Er soll sie aber gut sehen, er soll kommen! Sie will es, unbedingt!
Nachher, wenn sie im Bett liegt, wach, dann wird er kommen. Wie jeden Nacht. Er wird wieder da sitzen, im Sessel und wieder nur schauen und denken, sie schläft tief und fest, wie ein Kind.
Die Decke, sie wird sie wegstrampeln, scheinbar im Schlaf. Sie kann das gut, und sie ist wach. Er sitzt nur da. Komm! Hier, die Decke ist weg, sieh her! Fass sie an, los! Nein, er setzt sich vor das Bett, auf den Teppich, zu ihren Füßen. Sie dreht sich auf den Rücken. Er glaubt wirklich, sie schläft. Sie öffnet die Schenkel, langsam, immer weiter, Stück für Stück, nur für ihn. Seine Augen sind starr, genau da hin. Sie kann es erkennen, der Mond scheint heute hell. Bis jetzt ist jeder, jeder Mann schwach geworden, wenn sie ihm das zeigte. Alle sind sie gekommen, über sie, so gierig, befreit, endlich durften sie da hin, da hinein! Und er? Er kommt nicht! Warum? Warum ist er dann hier? Wie kommt er hier herein, so leise, ohne einen Laut?
Oder riecht sie wieder nicht gut? Ist es das? Sie verträgt nun mal kein Parfüm. Nein, das kann es nicht sein.
Was soll sie sonst noch machen, damit er zu ihr kommt? Sie endlich berührt, verführt, in sie kommt? Ihr fällt nichts mehr ein. Mehr kann sie ihm nicht geben, mehr besitzt sie nicht. Oder doch? Aber was? Jetzt, er streckt die Hand aus. Wird er sie berühren? Nein, er zieht sich wieder zurück. Feigling! Sie bietet sich an, ihm, nur ihm, keinem anderen Mann. Doch er, was macht er, er nimmt das Geschenk nicht an. Setzt sich wieder in den Sessel und starrt. Wie sich ihre Brüste mit den harten Spitzen heben und senken, so gleichmäßig. Das silberne Licht des Mondes spiegelt sich auf der Haut, wirft Schatten, runde Schatten. Seine Finger folgen im sicheren abstand der Kontur. Er leidet, sie leidet auch. Sie leiden zusammen und doch jeder für sich.
Ihr fallen sie wieder ein, die Königskinder. Sie konnten nicht zusammen kommen. Zum Glück war ihr Vater kein König! Sie können also doch zusammen kommen! Schon bald? Wenn er sich traut! Wenn er es will, wenn er sie will! Sie ist bereit, sie will, sie will ihn so sehr. Geh hin, fass sie endlich an! Los! Sie wartet, sie ist reif.
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