Weeslower Chroniken VII - 2003 Alexandra auf Kreta - Kapitel 4 - Der Unfall


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21.01.2022
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Weeslower Chroniken VII - 2003 Alexandra auf Kreta -

Kapitel 4 - Der Unfall

 

„Wonach ist Dir? Strand? Berge? Kultur?“ fragte er auch diesmal.

 

„Entscheide Du!“ antwortete sie erneut.

 

Und so entschied er. Nachdem sie ein paar Sachen zusammengepackt hatten, fuhren sie mit seinem Jeep erstmal an einen Strand, wieder in östlicher Richtung. Dort gab es eine hübsche stille Bucht, in der sie badeten, sich sonnten und etwa halbstündlich miteinander schliefen. Gegen zwei Uhr fuhren sie die Straße ein Stück zurück und kehrten in einem winzigen Dorf in einer kleinen Taverne ein. Dann fuhren sie in die Berge. Am Anfang eines Tales stoppte Michael, der sich auf der ganzen Insel bestens auskannte, den Wagen und führte Alexandra durch eine Böschung aus Oleander und Schilf zu einem kleinen, malerischen Bach. Dort erfrischten sie sich an diesem sehr heißen, windstillen Tag und badeten im klaren Wasser. Nackt kehrten sie zum Jeep zurück und blieben einfach so, als sie weiterfuhren.

 

Die Straße wurde zunehmend enger und schlechter, je weiter sie in das Tal kamen. Die letzten Häuser hatten sie lange hinter sich, nur ab und zu kamen sie an einem verlassenen Gehöft oder einem alten Ziegenstall vorbei. Einmal mussten sie anhalten, da eine Schafherde den Weg passierte. Der alte Hirte ließ sich nichts anmerken, als er an den beiden splitternackten Touristen in dem offenen Wagen vorbeizog.

Am Ende der Fahrt erwarte sie ein wunderschöner Wasserfall, versprach Michael. Er fuhr wieder sehr schnell, nach Alexandras Empfinden viel zu schnell um die engen Kurven, die sich am Berghang entlangschlängelten. Sie musste sich immer wieder am Überrollbügel des Jeeps festklammern, um mit ihrem Oberkörper nicht hin und her geschleudert zu werden. „Könntest Du etwas langsamer fahren? Bitte!“ Sie blickte ängstlich die tiefe Schlucht neben der holprigen, lange schon nicht mehr asphaltierten Piste hinunter.

Der nackte Mann neben ihr grinste und schaute hinüber. „Keine Sorge, ich kenne hier jedes Schlagloch.“ Er nahm rasant eine weitere Kurve, bremste plötzlich ab. „Da müssen wir lang.“ Er bog links in einen noch schmaleren Weg ab, der eher ein Eselspfad zu sein schien. Es ging bergab. „Gleich sind wir da.“ Das Buschwerk links und rechts schlug gegen das Blech. Da der Jeep keine Türen hatte, rutschte Alexandra weit in die Mitte, um sich keine Kratzer zu holen. Michael fuhr etwas langsamer, da der Weg an manchen Stellen stark ausgewaschen war, aber für Alexandras Geschmack auch weiterhin viel zu schnell.

 

Und dann war da das Schaf. Es stand plötzlich mitten im Weg, schwarz, zottelig, direkt hinter einer Kurve. Michael sah es spät, zu spät, bremste und zog nach links, Richtung Abhang. Dort war der Weg von einem querenden Wasserlauf stark ausgewaschen worden und war abgesackt. Michael zog wieder nach rechts, doch zu spät, der Wagen schlingerte, kippte zur Seite, das Vorderrad traf mit Wucht auf die andere Seite der Auswaschung, der Motor heulte auf, das Hinterteil hob sich. Und der Wagen stürzte. Stürzte den Abhang herunter. Überschlug sich einmal, zweimal, durchbrach eine Böschung und rutschte dann vorwärts steil weiter, bis er auf dem Weg, der dort unten wieder entlangführte, aufschlug und in einer riesigen Staub- und Geröllwolke zum Stehen kam.

Alexandra hatte all das vor Schreck erstarrt beobachten können, denn schon beim ersten Kippen war sie auf der offenen Beifahrerseite herausgeschleudert worden und saß nun oben auf dem Weg und sah hinab.

„Michael!!“

Sie sprang auf. Den direkten Weg, den der Wagen genommen hatte, konnte sie nicht nehmen, also lief sie die Straße entlang, etwa achtzig Meter, dann die Serpentine, dann weitere achtzig Meter, alles barfuß auf dem Schotter, doch das spürte sie in diesem Moment nicht. Atemlos erreichte sie den Wagen. Michael saß noch auf seinem Sitz, ein Wunder, da er wie sie auch nicht angeschnallt war. Sie klettere auf den Beifahrersitz. Er blutete am Kopf, an den Oberschenkeln, an beiden Händen. „Michael!“ Er stöhnte. „Gott sei Dank, Du lebst!“

Michael öffnete die Augen, bewegte seine Arme, rieb sich das Gesicht. Dann sah sie, wie er versuchte, seine Beine zu bewegen und das Gesicht vor Schmerz verzog. „Da stimmt was nicht.“ sagte er leise. „Da ist was gebrochen.“

 

Alexandra kam um den Wagen herum auf seine Seite. „Kannst Du aussteigen?“ Sie stützte ihn, er holte tief Luft, dann verlagerte er das Gewicht auf sie. „Langsam!“ quetschte er zwischen den Lippen hervor. Sie hob ihn mit heraus, er half, indem er sich am Metallgestell über ihm festhielt. Dann ließ er sich langsam in den Staub der Straße fallen. Sein rechter Fuß stand seltsam reglos vom Bein ab. Er fühlte vorsichtig mit der Hand hin. „Der ist hinüber.“

„Und sonst? Dein Kopf?“

Nun fühlte er dort. „Nein, das ist nichts. Nichts Schlimmes.“ Er besah sich seinen Oberschenkel. „Das ist nur der Schaltknüppel gewesen, das geht auch. Aber die Hände…“

Die Hände sahen übel aus. Michael musste sich wohl am Überrollbügel festgeklammert haben und dadurch jeden Aufprall beim Überschlag mit den Fingern mitgenommen haben. Er bewegte die Finger. „Tut höllisch weh, aber gebrochen ist da nichts.“ stellte er fest.

 

Nach dem allerersten Schreck sah sich Alexandra nun erstmals um. „Wo sind wir hier? Du musst zu einem Arzt, ins Krankenhaus!“

„Der Wagen ist hinüber.“ stellte er fest und deutete auf das Vorderrad, das in einem abgeknickten Winkel abstand. „Vermutlich der Aufprall hier unten.“

Alexandra erblickte am Hang eine ihrer Wasserflaschen, holte sie und reichte sie Michael.

„Ist Dir was passiert?“ fragte er, nahm einen Schluck und reichte sie ihr zurück..

„Nein. Zum Glück nicht.- Ich werde Hilfe holen.“

„Warte! Siehst Du irgendwo mein Handy?“

Sie schaute sich um und wies dann auf den Hang. „Nein. Bestimmt irgendwo da oben.“

„Egal. Da unten ist gleich der Fluss. Schau zuerst, ob da nicht irgendjemand ist. Manchmal kommen Touristen dahin.“ Leiser wiederholte er: „Manchmal.“

„Okay, ich gehe mal mein Kleid suchen.“ Dann wies sie an sich herab. „Aber ich habe keine Schuhe mit…“

„Nimm meine. Ich muss sowieso dringend mit dem Fuß da raus, das schwillt mächtig an.“

Ganz vorsichtig löste sie ihm das Schuhband, öffnete seine Turnschuhe soweit es ging und zog sie ihm langsam aus. Er stöhnte auf. Den anderen hatte sie vom gesunden Fuß schneller ausgezogen. Sie probierte sie an. Größe 44, statt 40, wie ihre. Aber immerhin. 

„Wenn Du am Wasserfall bist und da niemand ist, dann folge dem Bach abwärts. Wenn da Leute sind, dann Wanderer, die zum Fall hochwandern. Denen könntest Du entgegen kommen. Wenn Du niemanden triffst, dann kommt irgendwann so ein Plateau, das erkennst Du, weil dort ein Pfad lang läuft, der hier auf diese Bergseite hinauf führt. Dort kommst Du auf die Straße, von der wir oben abgebogen sind. Und die müsstest Du dann herunterlaufen, bis du jemanden triffst. Notfalls bis zum Dorf.

„Wie weit ist das?“

Er atmete durch, um seine Antwort zu verzögern. „So zehn, zwölf Kilometer.“

Sie wiederholte leise und gedehnt: „Zehn, zwölf…. scheiße…“

„Nimm viel Wasser mit. Am besten, Du füllst am Fluss die Flasche auf. Das kann man trinken.“

„Ich suche mal mein Kleid.“

„Und mein Handy!“ fiel ihm ein.

Sie stieg den Hang ein Stück hinauf, dort wo der Wagen herunter gekommen war. Sie fand nichts. Auch nicht seine Hose. Als sie weiter klettern wollte, rutschte sie immer wieder ab. Sie gab auf und versuchte den umgekehrten Weg, lief die Straße wieder hoch. Doch auch dort war nichts vom Kleid zu sehen. Aber sie erspähte sein Handy. Sie wagte sich einen Meter weit hinunter, drohte aber sofort herabzurutschen. Gerade eben konnte sie es erreichen, an sich nehmen, da rutschte sie erneut ein Stückchen weiter. Mit Mühe erklomm sie wieder den Weg. Kein Empfang. Und ihr eigenes Handy hatte sie nicht mit. Nichts hatte sie an diesem Tag mitgenommen, nicht mal Geld, nicht mal Schuhe, sich ganz auf ihn verlassen. Sie schaute nochmal den steilen Hang mit den abgerissenen Sträuchern und Büschen herab. Wenn sie sich nun auch verletzte, dann hätten sie ein noch viel größeres Problem. Also gab sie es ganz auf und kehrte zu ihm zurück. Sie hielt das Handy hoch und rief schon von weitem: „Kein Empfang.“ Sie stand nackt vor ihm. „Und auch kein Kleid, keine Hose, nichts. Scheint alles irgendwo da oben in dem Gebüsch zu liegen. Aber da komme ich nicht hin.“

 „Sorry.“ sagte er kleinlaut. „Dann musst Du wohl so los.“

„Das befürchte ich auch…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Hilft ja nun auch nichts. Vielleicht finde ich ja unterwegs eine alte Decke in einem Ziegenstall… - So, los, ich helfe Dir, Dich in den Schatten zu setzen, komm!“ Sie half ihm auf. Gestützt von ihr humpelte er über den Weg zum Hang. Ein Eukalyptos–Baum war durch den Sturz abgebrochen und bot ein wenig Schatten. Sie kam noch einmal zum Jeep zurück, holte beide Fußraum-Matten vor und legte sie neben dem Baumstamm ab. Er konnte sich darauf mit dem Rücken an den Stamm gelehnt in den Schatten setzen.

„Nett hier. Hier halte ich es eine Weile aus.“ Sein Scherz ging unter, er passte nicht zu ihrer Stimmung.

„Ich schau dann mal unten.“ Alexandra lief hinunter zum Wasserfall. Dort war niemand. Sie hatte nichts anderes erwartet. Aber sie kam mit zwei vollen 1.5-Liter-Wasserflaschen zurück. „Habe ich gefunden. Sahen noch ganz gut aus, waren jedenfalls gut verschlossen. Ich habe sie mehrfach ausgespült und aufgefüllt. Wirst Du brauchen.“

Er schaute auf seine Uhr. „Schon halb fünf. Du solltest losgehen.“

„Okay.“ Sie nahm die andere Wasserflasche, nahm einen großen Schluck und hob die Hand. „Also dann, halte durch!“ Ohne Kuss oder andere Liebesbekundung wandte sie sich ab und ging den Weg erneut hinunter.

 

Alexandra war sauer. Wegen des Wegs, der vor ihr lag, wegen des vermiesten Urlaubstags, wegen ihres nicht gefundenen Kleides, wegen seiner blöden, eitlen Raserei. Wegen Jasmin, die sie verlassen hatte. Wegen… Immerhin lenkte sie der Ärger so sehr ab, dass sie die erste halbe Stunde ihres Weges überhaupt nicht wahrnahm. Sie begegnete nur niemandem. Kein Wunder, sagte sie sich, so spät am Tag wandert auch niemand mehr hier herauf. Als sie das erwähnte Plateau erreicht, hielt sie kurz an und trank einen tiefen Schluck aus der Flasche. Dann wandte sie sich nach rechts und folgte dem dortigen Pfad, der anfangs ebenso bergab verlief, dann horizontal und schließlich leicht anstieg.

Die Schuhe drückten. Auch wenn sie zu weit waren, sie hatte sie eng schnüren müssen, an der Schnürung und an der Lasche drückte es dadurch enorm, sie lief sich wund. Auch an der Hacke schabte sie sich allmählich Blasen. Und sie spürte ihren Magen grummeln. Natürlich, es war Stunden her, dass sie was gegessen hatte, und dann auch nur einen leichten Salat. Doch das Grummeln nahm zu, wurde zum Drücken. Sie hielt an. Ihr war irgendwie schlecht. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Und da passierte es schon. Sie konnte sich gerade noch hinhocken, da schoss es aus ihr heraus. Durchfall! Als der erste Schwall vorbei war, stand sie mit wackeligen Knien auf, doch sofort ging es wieder los.

 

Etwa nach zwanzig Minuten fühlte sie sich in der Lage, langsam weiter zugehen. Das Wasser! Von wegen `das kann man trinken´. Ihre Wut auf Michael wuchs nur noch mehr an.

Wo bin ich eigentlich? Nach einer Biegung konnte sie ins Tal schauen. Und erkannte, dass sie am Plateau die falsche Richtung gewählt haben musste, denn die Piste, die sie gekommen waren, lag am anderen Berghang. Ihr Mut sank. Wie spät mochte es sein? Halb sechs? Sechs? Und sie fühlte sich elend und schwach. Umkehren? Weiterlaufen? Sie wog ab. Sie hatte keine Ahnung, wo es sie hinführen würde, wenn sie weiterlief. Also umkehren.

 

Nach einer weiteren halben Stunde war sie wieder am Plateau angelangt. Hier querte sie den Fluss. Sie zog die Schuhe aus und wusch sich ab. Wenigstens fühlte sie sich nun nicht mehr so unrein, und es tat gut, die schmerzenden Füße zu kühlen. Nach kurzer Zeit brach sie wieder auf. Sie verspürte, wie mau ihr Magen war. Sie hatte quälenden Hunger und Durst. Der Weg war steinig und steil, sie musste sich auf jeden Schritt konzentrieren. In immer kürzeren Abständen musste sie sich hinsetzen. Nach einer gefühlten Stunde kam sie an der Piste an, von der aus sie abgebogen waren. Diese musste sie nun nur noch bergab laufen. Wie weit etwa? Sie versuchte sich zu erinnern. Sechs, sieben Kilometer mindestens. Doch der Weg zog sich. Und keine Menschenseele. An einer Stelle erkannte sie einen Ziegenstall wieder. Sie bog ab, schlug sich durch die Büsche und öffnete eine einfach Drahtschnalle, die einen maroden Zaun zusammenhielt. In dem Stall war nichts, nur altes Stroh, ein verwanzter Schlafsack und leere verstaubte Weinflaschen. Enttäuscht zog sie weiter. Ein paar Kilometer weiter hörte sie den Fluss wieder, er lag unterhalb. Wenigstens die Füße kühlen können, den Schweiß abwaschen. Sie suchte einen Pfad dorthin, erkannte einen Ziegenpfad und folgte ihm abwärts. Ihre Beine wollten sie kaum noch tragen, sie fühlte sich schwach. Und rutschte aus. Fiel.

 

 

 

Als sie die Augen öffnete, sah sie – nichts. Nur Dunkelheit. Aber sie roch es sofort, sie war nicht draußen, sondern in einem Raum. Es roch nach Holz und Russ. Sie richtete ihren Oberkörper auf. Tastete um sich. Sie lag auf einer Holzpritsche, unter sich eine Wolldecke und über ihrem Körper ebenfalls. Ein bezogenes Kissen, das sich wie mit Sägespänen gefüllt anfühlte. Nachdem sich die Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie einen helleren Spalt, wie unter einer Tür. Sie erhob sich, setzte sich aber sofort wieder. Ihr war schwindelig. Sie versuchte es erneut, tastete sich vor, stieß an etwas wie einen Tisch, erreichte die Tür, drückte dagegen. Sie war verriegelt, aber als sie den Riegel fand, ließ sich dieser leicht zurückschieben. Sie schob die Tür auf und war im Freien. Das milde Licht eines halben Mondes ließ sie Umrisse von Bäumen um sich herum erkennen. Über sich klarer Sternenhimmel. Wo bin ich? Wer hat mich hier her gebracht? Bin ich allein? Und was ist mit Michael?

 

„Hallo?“ rief sie vorsichtig. „Hallo?“ Keine Antwort. Sie fröstelte, es war kühl geworden in den Bergen. Sie war noch immer nackt.

 

Sie drehte sich um und schaute in die Hütte. Mit dem hineinfallenden Mondlicht erkannte sie schemenhaft den Tisch, an den sie gestoßen war. Darauf lagen einige Gegenstände. Sie spähte hinein. Eine Kerze und daneben ein Feuerzeug. Nachdem sie die Kerze angezündet hatte und es im Raum heller wurde, erkannte sie, dass auf dem Tisch ein Teller stand. Schafkäse, ein halber Laib Brot, eingelegte Oliven. Daneben eine Flasche mit Wasser, ein Glas. Und noch eine Flasche. Alexandra roch daran. Raki. Ihr drehte sich der leere Magen um. Sofort machte sie sich über das Essen her, trank Wasser, und spürte, wie es ihr sogleich besser ging. Dabei sah sie sich um. Die Hütte war kaum größer als eine Einzelgarage. Auf der anderen Seite befand sich eine ähnliche Bettstatt wie ihre. Dazwischen Werkzeug, eine Rolle Drahtzaun, ein kleiner Schrank, ein winziger Ofen. Die Hütte eines Hirten. Aber wo war er? Noch einmal ging sie hinaus, rief erneut, diesmal lauter. Niemand da. Sollte sie weiter ziehen? Allerdings wäre es stockfinster auf dem Weg. Und sie wusste nicht einmal genau, wo der eigentlich lag. Sie ging hinein, zog die Tür zu und kuschelte sich in die Decke. Und schlief wieder ein.

 

Schritte. Ein bellender Hund. Stimmen. Männerstimmen. Sofort saß Alexandra aufrecht im Bett und kauerte sich zusammen. Dann öffnete sich die Tür, das Licht einer Taschenlampe fiel herein. Zwei Männer standen dort, starrten sie an. Der eine – wohl der, der sie gefunden und versorgt hatte – schien von ihrem Anblick weniger überrascht, kam herein, sprach sie an. Sie verstand kein Wort, schüttelte den Kopf. Der andere kam ihm nach. Der erste wies dem zweiten den Tisch, den leeren Teller, lachte, machte Alexandra Zeichen, dass er sich darüber freue, dass sie gegessen hatte. Sie sagte „efcharistó“, was die beiden Männer glauben ließ, sie könne griechisch und ein Wortschwall brach über sie hinweg. Sie deutete an, dass sie nichts verstehe, und beide lachten. Dann streckte ihr einer eine Hand entgegen und wies mit der anderen nach draußen. Sie solle ihm folgen, schien das zu heißen. Alexandra ergriff die Hand, erhob sich und verließ mit den beiden die Hütte. Davor standen Michaels Turnschuhe. Alexandra stieg hinein, während einer der Männer einem Hund die Leine vom Zaunpfahl band. Aber ihre Füße waren so wund, dass sie lieber barfuß lief, sie behielt die Schuhe in der Hand. Die Männer gingen mit dem Hund einen schmalen Pfad voran. Sie erreichten eine kleine Straße, wo ein alter weißer Pick-Up stand. Die Männer ließen den Hund auf die Ladefläche springen und Alexandra einsteigen. Es war ein Dreisitzer, Alexandra saß in der Mitte. Splitternackt.

 

Die beiden Männer redeten laut und lachend über ihren Kopf hinweg. Alexandra war das unheimlich, allmählich beschlich sie eine Angst, die sie vorher in der Hütte seltsamerweise überhaupt nicht verspürt hatte. - Herrgott, bitte lass die beiden friedlich bleiben, betete sie, hoffentlich bringen die mich an einen sicheren Ort. Nach zehn Minuten erreichten sie ein kleines Dorf. Alexandra schöpfte schon Hoffnung, doch die beiden fuhren einfach hindurch. Weitere zehn Minuten später kamen sie in einen etwas größeren Ort, der immerhin teilweise so etwas wie Straßenbeleuchtung aufwies. Hier nun bog der Fahrer urplötzlich in eine Nebenstraße ab, hielt vor einem Haus, in dem durch ein Fenster Licht heraus fiel.

 

Sie betraten das Haus. In dem beleuchteten Zimmer saß – Veronika!

 

„Wie… wie…“ Alexandra stand starr vor Erstaunen.

 

Veronika sprang auf und umarmte die junge Frau stürmisch. „Gott sei Dank!“

 

„Wie kommst Du… ich… und Michael?“ stammelte Alexandra.

 

„Michael ist im Krankenhaus. Sein Fuß ist gebrochen, aber das wird schon. Du warst unsere Sorge!“

 

„Aber wie…“

 

„Komm, setz´ Dich!“

 

Jetzt erst bemerkte Alexandra, dass am Tisch noch jemand saß, eine alte verhutzelte Frau, die sie zahnlos angrinste. Die Alte goss Alexandra einen Raki ein und hielt ihr das Glas hin. Alexandra nahm es dankbar an und setzte sich.

 

„Keine halbe Stunde, nachdem Du weg warst, kam ein Aufseher der Feuerwehr an der Unfallstelle vorbei. Der war oben am Berg auf der Station der Waldbrandwache und hatte den Jeep unten auf dem Weg liegen sehen. Der holte dann Verstärkung. – Aber Dich haben die nirgends gefunden.“

 

„Und wie seid Ihr dann hier… zu denen…“

 

„Die Feuerwehrleute haben alle Leute hier im Dorf informiert. Michael ließ Kostas informieren, und der ist mit mir dann hier hochgefahren. Ich habe in der Bar gewartet, er ist zurück. - Vor einer Stunde kam dann Ioannis vom Berg und erzählte, er hätte dich gefunden.“ Sie umarmte Alexandra nochmals. „Wie geht es dir? Alles okay?“

 

„Jetzt ja.“ strahlte Alexandra. „Nur meine Füße tun höllisch weh.“

 

„Ich muss nochmal rüber in die Bar. Willst Du hier warten?“

 

„Nein, ich möchte mit.“

 

„So?“

 

Alexandra hatte vollkommen vergessen, dass sie nackt war. „Ja, also, ich hab ja nichts dabei.“ meinte sie achselzuckend.

 

Veronika grinste. „Dann komm so mit. Das wird eine bleibende Erinnerung für alle. Auch für dich.“

 

 

Sie verabschiedete sich herzlich von Ionannis und der alten Frau, seiner Mutter. Der andere Mann begleitete die beiden Frauen durch das Dorf hinüber zur Bar an der Hauptstraße. Es war gegen Mitternacht.

 

Drinnen saßen etwa zehn Männer, die meisten davon Feuerwehrleute. Sie machten große Augen, lachten, scherzten, als sie Alexandra sahen, nahmen sie in ihre Mitte, gaben ihr sofort einen weiteren Raki aus. Einer von ihnen, der Hauptmann, konnte erstaunlich gut Englisch, und überschüttete Alexandra mit Fragen, übersetzte dann ihre Antworten, alles lachte. Man siedelte von der Theke an einen größeren Tisch um, die nackte Alexandra umringt von den Männern.

 

Sie blieben zwei Stunden, es wurde eine regelrechte Feier, dann aber befahl der Hauptmann pflichtbewusst seine Männer zum Aufbruch. Der Wirt bot den Frauen an, in einem seiner wenigen Fremdenzimmern zu übernachten. Nach einem kleinen Imbiss begaben sich die beiden oben aufs Zimmer, Alexandra schlief sofort ein.

 

Veronika, die Frühaufsteherin, war schon weg, als Alexandra wieder erwachte. Zu gern hätte sie geduscht, aber in dem schlichten Zimmer gab es keine, nur eine Toilette. Sie spähte aus der Tür in den Flur. Vielleicht die Tür gegenüber? Kaum, dass sie einen Schritt hinaus gemacht hatte, erschien der Wirt am Ende des kurzen Flurs. Er grüßte freundlich und gab zu verstehen, dass es unten ein Frühstück für sie gab. Alexandra fragte nach einer „shower“. Er verstand und wies auf eine andere Tür am hinteren Ende des Flurs.

Alexandra genoss die Dusche, fand auch Shampoo, aber dann stellte sie fest, dass nirgendwo ein Handtuch lag. Nass wie sie war schlich sie sich in den Flur, versuchte eine Tür nach der anderen, aber alle waren verschlossen, bis auf die eigene, aber in dem Zimmer lag nichts. Notdürftig rieb sie sich mit dem Bettlaken ab. Dann machte sie sich auf den Weg nach unten, wo Veronika schon auf sie wartete.

 

Sie war nach wie vor nackt. Was hätte sie auch anziehen sollen? Allmählich hatte sie sich an den Zustand gewöhnt, vor allem nach dem gestrigen Abend. Veronika bestätigte sie darin. Sie erzählte, den Leuten im Dorf sei Nacktheit nicht ganz fremd, zumindest nackte Touristen, seit die Wanderung hoch zum Wasserfall zum Geheimtipp unter Nudisten geworden sei.

 

„Irgendwann mache ich die auch mal“, meinte Alexandra. „Aber erst, wenn meine Füße wieder heil sind.“

 

 

Kostas holte sie ab und brachte die beiden Frauen zurück zur Taverne. Den Vorschlag, unterwegs Michael im Krankenhaus zu besuchen, lehnte Alexandra ab.

 

„Sorry, Veronika. Was Sex angeht, ist der Mann der absolute Wahnsinn. Aber als Typ, nein, wirklich nicht. Der ist gefahren wie ein Wahnsinniger. Und dann sollte ich ihn retten. Idiot!“ schimpfte sie.     


Kommentare

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