Ausweglos - Teil 1
Der Traum
„Hier kommt die geile Chantalle“ – unsere fraglos heißeste Schnalle und bewegt richtig schnell, für Euch ihr unvergleichliches Gestell!“ Schweißgebadet sitze ich im Bett. Da war er wieder – mein Alptraum, der mich seit nunmehr 20 Jahren, neun Monaten und zwei Tagen begleitet. Zugegeben, er kommt seltener, mittlerweile viel seltener. Hatte ich anfangs keine ruhige Nacht, sind es jetzt oft mehrere ungestörte Wochen. Aber dann ist er wieder da. Wie heute. Und ich kann nichts dagegen tun. Ich kann mir nicht erklären warum. Nach all der Zeit und in voller Intensität. „Hier kommt die geile Chantalle“ – unsere fraglos heißeste Schnalle und bewegt richtig schnell, für Euch ihr unvergleichliches Gestell!“ Weinend presse ich mir die Hände auf die Ohren und langsam wird die lautsprecherknarzende Stimme in meinem Kopf, die in Endlosschleife den primitiv zusammengezimmerten Reim herunterspult, leiser. Wie lange werde ich Ruhe haben, vielleicht bis in den Dezember? Der Januar ist erfahrungsgemäß am schlimmsten. Der Tag vor 20 Jahren, neun Monaten und zwei Tagen war der 4. Januar. Und schon in der Weihnachtszeit und an Silvester und Neujahr schießen die Gedankenblitze durch meinen Kopf: „Hier kommt die geile Chantalle ….“.
Mein Blick streift den Wecker – 04:22 Uhr. Ich werfe die leichte Sommerdecke vom Bett, gehe in die Küche und trinke ein Glas Wasser. Das leichte Perlen in meiner Kehle tut gut, „kühlt mich herunter“. Erfahrungsgemäß sind dies die Minuten, die ich nach dem Traum brauche, um wieder in den Normalzustand zu kommen. Schon bevor ich den Wasserhahn der Dusche aufdrehe sind meine Gedanken wieder im Januar.
Anja
Das Wasser prasselt mit ebensolcher Intensität auf meinen Körper, wie die Gedanken an den Januar vor nunmehr bald 21 Jahren in meinem Kopf hämmern. Anja, eine entfernte Freundin, wenn man das überhaupt so bezeichnen kann, hatte mich nach langem Reden überzeugt.
Anders als viele in unserem Semester schien sie keine Geldsorgen zu haben. Dies war umso erstaunlicher, da Sie ihre ohnehin in einfachen Verhältnissen lebenden Eltern bei einem Autounfall verloren hatte und offenbar nur von einem wenn auch etwas höherem BAFÖG lebte. Aber sie fuhr einen blendend gelben Fiat Uno Sport, bewohnte eine kleine Wohnung nahe der Uni und war stets außergewöhnlich gut gekleidet. Sie hatte viele „Freundinnen“, obwohl viele sie nur umschwirrten, um nahezu neue Jeans, Kleider, Röcke und Tops zu ergattern, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – stets nur wenige Wochen in Anjas Kleiderschrank hingen und schnell neuen Modellen Platz machen mussten. Zu diesem Kreis gehörte ich nicht. Vielmehr waren wir gemeinsam aus dem von Fontane in seinen „Wanderungen“ begeistert beschriebenen beschaulichen Rheinsberg an die altehrwürdige Berliner Humboldt-Universität gekommen. An der EOS, der „Erweiterten Oberschule“, hatten wir als Klassenbeste das Abitur gemacht –jeweils als „Leuchttürme“ der beiden Parallelklassen.
Es mag Leute geben, die dachten, ich hätte es leichter gehabt als sie, die Vollwaise. Sie glaubt das übrigens noch heute. Von wirklichen Freundinnen konnte zumindest damals keine Rede sein, eher von Konkurrentinnen, die respektvoll miteinander umgingen. Aber aus diesen gemäßigt konkurrierenden Kleinstadt-Streberinnen wurden später an der Uni vornehmlich durch ihre Herkunft verbundene Streitgenossinnen. Aber hatte ich es wirklich einfacher? Vom Intellekt her waren wir uns ebenbürtig, Anja mit Stärken im sprachlich-musischen Bereich, ich hatte die Nase bei den Naturwissenschaften etwas vorn. Aber bei uns beiden manifestierten sich die Unterschiede nur in Nuancen. Wir hätten für gute Leistungen nichts tun müssen. Aber gute Leistungen wären eine Niederlage für uns gewesen. Alles unter einer 1 befriedigte mich nicht und machte sie wütend. Und deshalb büffelten wir wie die Wahnsinnigen. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, wenn ich an die von uns einerseits begeisterten, andererseits aber auch verzweifelten Lehrer denke. Verzweifelt spätestens dann, wenn wir sie vor versammelter Klasse nicht selten mit unerwarteten Fachfragen löcherten. Aber – hatte ich es leichter? Sicher, meine Mutter war Pionierleiterin an der POS „Sophie Scholl“, eine stadtbekannte, engagierte und anerkannte Frau. Anerkannt in Eltern-, Kollegen- und Parteikreisen. Anerkannt aber auch bei Skeptikern und Gegnern, sofern man die überhaupt so nennen kann. Vermutlich zählte sie zu den wenigen Pionierleiterinnen der Republik, die offene und gute Kontakte zu den Kirchengemeinden der Region pflegten. Sie war in unserer kleinstädtischen Idylle eine Instanz, eine Person, deren Wort etwas galt. Und gerade deshalb hatte ich es nicht leichter als die anderen! Jeder dachte, ich genösse Vorteile durch meinen Status als „Tochter“. Aber dies war nicht der Fall. Nichts wurde mir geschenkt. Sie war eine starke Frau, die sich in ihrem Leben immer wieder durchsetzen, bewähren musste. Und sie wusste – was auch ich heute weiß, wofür ich sie in frühen Kindertagen aber oft hätte verwünschen können – dass man sich Dinge selbst erarbeiten muss, um daran selbst ein tiefere innere Freude und Genugtuung zu finden. Das Glück über eine „geschenkte“ Note oder einen Sieg im Sport empfindet nur der Mensch, der keine Ansprüche an sich selbst hat, dem es lediglich darauf ankommt, wie er von seiner Umwelt wahrgenommen wird. Und so musste ich für vieles besonders schwer arbeiten: 1. um die Leistung zu erbringen, 2. um dies wirklich selbst zu tun und durchaus angebotene Handreichungen abzulehnen, 3. um dabei den Ansprüchen meiner Mutter zu genügen und 4., das zumindest seit EOS-Zeiten wohl schwierigste – um vor mir selbst zu bestehen. Wie dem auch sei: tatsächlich hatte es Anja leichter, da die Punkte 2. und 3. für sie nicht galten und der 4. von allenfalls untergeordneter Bedeutung für sie war.
Die Aufnahme
Ja, das war Anja. Und Anja war es, in deren Wagen ich am 4. Januar saß. Sie steuerte ihn über die AVUS aus der Stadt heraus, jagte in ihrem übermotorisierten Flitzer in unvernünftiger Geschwindigkeit Richtung Norden um dann, kaum die Autobahn verlassend, lammfromm vor sich hin zu tuckeln. Durch Bernau, eine unvergleichlich hässliche Stadt die nun, im Dunstkreis der neuen Bundeshauptstadt gelegen tief einatmete, sich vergrößerte und mit jedem Atemzug uniformer und abstoßender wurde. Vielleicht sag ich das aber nur als Rheinsbergerin so. Anja war es egal. Als am Straßenrand das Schild – „Table-Dance 24 h“ im leichten Niesel erschien, krampfte sich mein Magen zusammen. Nur der Gedanke an die Miete für meine WG-Beteiligung, mit der ich zwei Monate im Rückstand war und an meine Mutter, der ich ganz gewiss nicht mit weiteren Geldforderungen kommen wollte, gaben mir die Kraft auszusteigen. Auch direkt über dem Eingang blinkte ein Schild, hier noch ergänzt durch einen angedeuteten Frauenleib, der sich um eine Stange legte. „Na komm schon Kleine, lass uns den Laden aufmischen!“ Aus meinen Gedanken gerissen folgte ich Anja, die leise fluchend auf dem nassen schlecht beleuchteten Pfad auf eine metallene Hintertür zusteuerte und auf eine Klingel mit dem Schild „Personal“ drückte. Es öffnete, wie in einem kitschigen Film, ein Gorilla von einem Mann – Stiernacken, Glatze, Anzug, Hemd und Sakko über der Brust spannend. Wortlos glubschte er mich an, Anja völlig ignorierend, meinen leisen Gruß nicht erwidernd.
Nach einigen Stufen die in eine Art Keller führten, betraten wir einen mit „Büro“ beschriebenen weiß gekalkten Raum. Kälte aus jeder Pore. Kein Heizkörper. Weiße Wände. Weiße Decke. Weiße Bodenfliesen. Kein Fenster, dafür ein leise ratternder Lüfter. Ein Glastisch – vermutlich von IKEA ebenso wie der Kleiderständer und der Edelstahlstuhl der die Einrichtung vervollständigte. Und dann natürlich der Geschäftsführer, ein gegelter Bubi, wenn überhaupt, nur wenig älter als ich, der Anja, kam dass wir das Kühlhaus betreten hatten mit einem Wink und den Worten „Beweg Deinen Arsch, geh derweil Irina zur Hand.“ wieder herausexpedierte. Und dann war da nicht nur die Kälte. Es war jetzt das Verlassensein, das mich mit unsagbarer Intensität niederdrückte. Und es war der Bubi, der es nicht einmal für nötig hielt, mich zu begrüßen, stattdessen auf einem Klemmbrett einen nicht funktionierenden Kugelschreiber malträtierte. Dies zog sich über sicher zwei Minuten, die mir wie 20 vorkamen. Dann blickte er auf. „Häng Deine Tasche an den Ständer und komm her!“ Seine Stimme war eine Idee gedämpfter als eben bei der Anweisung an Anja. Aber nur eine Idee. „Dir sind die Bedingungen bekannt?“ drang es, im kalten ausgeräumten Raum nachhallend, an mein Ohr. „Im Groben ja.“ Presste ich heraus aber bevor ich etwas nachschieben konnte sagte er geschäftsmäßig: „Mittwoch, Freitag und Samstag. Stangenzeit 19:00 bis 00:00 Uhr. Reine Stangenzeit! Vor- und Nachbereitungszeit ohne Vergütung. 50 DM die Stunde. Also 750 DM die Woche als Festbetrag. Was in deinem Slip oder sonstwo landet, kannst Du auch behalten. Wenn Du mehr anbieten möchtest, stehen oben Zimmer bereit. Kannst Du für 50 DM die Stunde mieten. Noch Fragen?“ Fassungslos stand ich da. Meine Finger spielten nervös mit einem Mantelknopf. „Ich, ich also so genau ….“Zu mehr kam ich nicht, denn wieder wurde mir das Wort abgeschnitten. „Das Lehrvideo ist umsonst, 10 Übungsstunden mit Irina ebenfalls, die ersten morgen, am Dienstag.“ Überrumpelt nickte ich. „Du wirst Deine Kolleginnen noch kennenlernen. Eine strikte Vorgabe: Du erscheinst hier zu den vertraglich vereinbarten Zeiten. Erscheinst du nicht, bekommst Du kein Geld – Logisch? Und zusätzlich,“ sein Gesicht wurde fratzenhaft, „erstattest du uns das Dreifache Deines Stundensatzes. Es sei denn, Du beschaffst Ersatz. Alles in allem kannst Du mit gut 1.000 DM die Woche rechnen, kannst das aber durchaus verdoppeln. Alles klar?!“ Erst ein mehrmaliges Räuspern machte meine Stimme frei. „“Nun ja ich …“ „Gut, unterschreib hier!“ Ungeduldig zeigte sein manikürter Finger auf die gepunktete Unterschriftslinie, auf der auf mir unverständliche Weise meine zitternde Hand meinen Namenszug setzte. Der Rest hämmert immer als Ausgeburt des Bösen in meinen Träumen – Das Frage- und Antwortspiel, welches für mich nicht den Ansatz eines Spiels hatte und das ich wohl nur absolvierte, weil ich wusste, dass auch Anja es durchlaufen hatte.
„Name“ – „Nina Meyer“
„Geburtsdatum“ – „01.04.1972“
Und so ging es unendlich weiter. Irgendwie wie beim Abschluss einer Lebensversicherung. Kein Geheimnis durfte verborgen bleiben. Wiederholt wollte ich dem ein Ende machen, was aber stets dazu führte dass mich der Typ, Mike hieß er, kühl auf die Möglichkeit hinwies, das Etablissement augenblicklich zu verlassen: Natürlich ohne zweite Chance. Und es gab nichts, was ich in diesen unerträglich langen beschämenden Minuten lieber getan hätte. Und ich hätte es getan. Aber die Schulden, mir fehlte das Geld für das Nötigste und andere zu fragen, vielleicht sogar Anja, war keine Option. Ich ertrug es also, antwortete. Wahrheitsgemäß. Alles was ich sagte, notierte er feinsäuberlich auf seinem Formular. Ich bemerkte, dass er bestimmte Dinge nur abhakte, bei anderen Punkten aber Notizen vornahm. Dann eine der letzten Fragen, die mir noch heute in den Ohren hallen:
„Beruf der Mutter“ – „Das geht Sie nichts an.“
„Beruf der Mutter“ – „Ich sagte doch eben …“ – „Dann Verschwinde!“ – „Nein aber ….“
„Beruf der Mutter“ – „Pionierleiterin“
Brüllendes Lachen. „Du hast den Vertrag. Sei morgen Abend wieder hier. Dann beginnt Deine erste Unterweisung. Alles weitere dann auch morgen. Uns sieh dir bis dahin das Trainingsvideo an. Wenn es sein muss zehnmal. Klar?“ Nickend, froh, den eisigen Raum zu verlassen, ging ich. Draußen schon von Anja erwartet. Das hat ja gedauert. Alles in Ordnung fragte sie unerwartet fürsorglich, offensichtlich betroffen von meiner Gesichtsfarbe die in perfekter Weise mit den Wandfarben des Aufnahmeraumes korrespondierte.
Der Rest war in den Alpträumen die mich nachts heimsuchten und ihren liierten furchtbaren Tagesgedanken recht verschwommen. Am nächsten Tag borgte mir Anja den Wagen. Ich fuhr auf demselben Weg, nur deutlicher langsamer als 24 Stunden zuvor. Kurz nach dem Klingeln erwartetet mich Mike. „Schön dass du da bist. Du hast das Video gesehen?“ Kurzes Nicken von mir. Das Video, zeigte 15 Minuten lang Bewegungsabläufe, in deren Zentrum eine Edelstahlstange stand. Kurze Anweisungen einer tiefen Frauenstimme in der Art „Rechte Hand in den Schritt, dabei halbe Drehung und linke Hand an rechte Titte“. Alles verrauscht, billig. Aber verständlich. Vorgeführt von einer mageren Rotharigen. Ich wurde einen Flur entlanggeführt und landete in einen hell beleuchteten Raum, ebenfalls im Keller. Spartanische Einrichtung schien ein Markenzeichen dieses Hauses zu sein. Ein schmuckloser weißer Tisch, Kleiderständer und das wichtigste – Eine Stange auf einem Podest. In der Zimmerecke noch eine Waage und ein Maßband an der Wand. „Ausziehen!“ Kalt und unsensibel kam es von Mike“. Dann, ich wollte gerade protestieren, öffnete sich die Tür und Irina trat ein. Ja, Irina. Bis zum heutigen Tage kann ich sie nicht einschätzen und wenn es je in meinem Leben einen Menschen gab, zu dem ich ein ambivalentes Verhältnis pflegte, dann war sie es. Wie der Name schon vermuten ließ, stammte sie aus Russland, genauer gesagt aus Twer, einer 400.000-Einwohnerstadt 150 Kilometer nordwestlich von Moskau, direkt an der Bahnmagistrale nach St Petersburg. Trotz sieben Jahren Russischunterrichts hatte ich nie von diesem von der Wolga durchflossenen Moloch einer Stadt gehört. Auch heute weiß ich nicht viel mehr darüber, als dass Irinas Mann an der dortigen Militärakademie studierte, Mitte der 1980er Jahre mit seiner gerade einmal 25jährigen Frau in die DDR, nach Bernau, versetzt wurde und dann 1991, als „die neuen Länder“ sich dem Willen eines korpulenten Politikers folgend in einen einzigen blühenden Garten zu verwandeln begannen, in die Heimat zurückgeschickt wurde. Irina blieb. Aber ihre Perspektiven gingen und so fand sie sich als eine der ersten in dem neu errichteten Club wieder. Und dort war sie, trotz ihres noch mädchenhaften Aussehens so etwas wie eine „Puffmutter“. Irina eine Eisprinzessin mit glühendem Herzen … „Ausziehen!!!“ schnarrte Mike und „Nun mach schon Kleine.“ ergänzte Irina Und ich machte – ich zog mich aus. Ich stieg auf die Waage und wurde vermessen wie ein Stück Vieh. Zufrieden notierte Mike „ 59 kg auf 1,70“. Stimmte recht genau mit meinen gestrigen Angaben überein. Dann kam noch die hingeblubberte Anweisung, dass mein allabendlich vor Beginn der Show kontrolliertes Gewicht in der Spanne zwischen 57 und 60 kg zu liegen habe, ansonsten gäbe es Lohnabzüge oder den Rauswurf. Ich nickte nur geduldig. Beschämt. Die restlichen 5 Stunden sind nur als schwere körperliche Anspannung in meinem Gehirn erhalten geblieben. Mehrfaches Ansehen des Videos, Nachtanzen, Körperübungen, Stangenübungen. Alles unterstützt durch „Hilfspunkte“ auf Boden und Stangen. Zierliche Frauenfüße und Hände gemalt auf den Boden, Griffpunkte an der Stange. Irina tanzte mir vieles mehrfach vor. Sie war emotionslos. So wie ich heute Studentenarbeiten korrigiere – öde Routine – brachte sie Neulingen den geldbringenden Tanz bei. Es war machbar, insbesondere für mich, die ich körperlich toptfit war. Die nächste Lektion kam eine Woche später.
Kommentare
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