Weihnachten bei Buddenbrooks


baer66

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27.12.2014
CMNF

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Wie jedes Jahr vermag es Christian Buddenbrook auch heuer wieder kaum zu glauben. Auch diesmal kommt das Weihnachtsfest mit Riesenschritten heran und die kleinen Kinder verfolgen mit Hilfe des Abreißkalenders pochenden Herzens das Nahen der unvergleichlichen Zeit.

Es ist die Zeit der Liebe, aber die Menschen werden deswegen nicht liebevoller, sondern wirken erschöpft, gequält und überlastet. Das Fest der Familie versöhnt auch nicht etwa lange zerstrittene Verwandte, sondern entzweit sie eher noch mehr.

Christian ist das Enfant terrible der alten, angesehenen Kaufmannsfamilie, er widersetzt sich jeglichen Konventionen, privat und beruflich. Viele Frauen finden das anziehend, aber diejenigen, die man in seinen Kreisen als heiratsfähig betrachtet, sind nicht darunter.

 

Die weihnachtlichen Vorzeichen mehren sich … Schon seit dem ersten Advent hängt in Großmamas Eßsaal ein lebensgroßes, buntes Bild des Knecht Ruprecht an der Wand. Eines Morgens findet Christians kleiner Neffe Hanno seine Bettdecke, die Bettvorlage und seine Kleider mit knisterndem Flittergold bestreut.

Christian beneidet den Knaben insgeheim um seine unschuldige Vorfreude auf das große, geheimnisvolle Fest. Könnte er sich doch auch noch so kindlich für das adventliche Geschehen begeistern!

Schon ist der große Saal geheimnisvoll verschlossen, schon kommen Marzipan und braune Kuchen auf den Tisch, schon ist es Weihnacht draußen in der Stadt. Schnee fällt, es kommt Frost, und in der scharfen, klaren Luft erklingen durch die Straßen die geläufigen oder wehmütigen Melodien der italienischen Drehorgelmänner, die mit ihren Samtjacken und schwarzen Schnurrbärten zum Fest herbeigekommen sind. In den Schaufenstern prangen die Weihnachtsausstellungen. Um den hohen gotischen Brunnen auf dem Marktplatz sind die bunten Belustigungen des Weihnachtsmarktes aufgeschlagen. Und wo man geht, atmet man mit dem Duft der zum Kauf gebotenen Tannenbäume das Aroma des Festes ein.

Christian wird immer ein wenig schwermütig in dieser stillen Zeit. Die trüben Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, versucht er mit Frivolitäten zu verscheuchen. Während die anderen immer stiller werden, drängt es ihn dann noch unwiderstehlicher, sein Leben lustbetont in vollen Zügen zu genießen, wie um sich von der zuckersüßen Weihnachtsidylle künstlich abzuschließen.

Zum Glück gibt es da die kleine verschwiegene Wohnung am Mühlenwall, wo ihn Fräulein Jungmann stets bereitwillig erwartet. Sie fühlt sich ungemein geschmeichelt, daß ein Sproß der angesehensten Familie der Stadt ihre Gesellschaft der seiner vornehmen Verwandtschaft vorzieht. Und großzügig ist Christian zu ihr auch immer gewesen.

Fräulein Jungmann zieht sich langsam und aufreizend aus, während Christian gemütlich im bequemen Fauteuil am Kamin Platz genommen hat. Mit unbändigem Verlangen in den leuchtenden Augen betrachtet er die ausgeprägten weiblichen Formen der attraktiven Frau und genießt die Berührung ihres warmen weichen Leibes. In ihrer Gegenwart fühlt er sich einfach stark und frei, was er unter den strengen Augen seiner Familie zu Hause nie sein kann.

 

Nun ist der Heilige Abend endlich da! Das feierliche Fest kann in der gebotenen Würde gefeiert werden. Übrigens ist kaum Gefahr vorhanden, diese Stimmung möchte durch einen Laut jugendlichen Übermutes zerrissen werden. Ein Blick genügt, zu bemerken, daß fast alle Mitglieder der hier versammelten Familie in einem Alter stehen, in welchem die Lebensäußerungen längst gesetzte Formen angenommen haben.

Und die Kinder? Der ein wenig spärliche Nachwuchs? Ist auch er für das leise Schauerliche dieses so ganz neuen und ungekannten Umstandes empfänglich?

Was die friedlich schlafende kleine Elisabeth, Hannos Cousine, betrifft, so ist es unmöglich, über ihren Gemütszustand zu urteilen. Hanno aber sitzt still auf seinem Schemel zu den Füßen seiner Mutter und blickt gerade wie sie zu einem Prisma des Kronleuchters empor …

Christian fehlt! Wo ist Christian? Erst jetzt im letzten Augenblick bemerkt man, daß er noch nicht anwesend ist. Die Bewegungen seiner Mutter, der Konsulin, die eigentümliche Manipulation, mit der sie vom Mundwinkel zur Frisur hinaufzustreichen pflegt, als brächte sie ein hinabgefallenes Haar an seine Stelle zurück, werden noch fieberhafter. Sie instruiert eilig die Hausdame, und die Jungfer begibt sich an den Chorknaben vorbei durch die Säulenhalle, zwischen den Hausarmen hin über den Korridor und pocht an Christian Buddenbrooks Tür.

Gleich darauf erscheint Christian. Er kommt mit seinen mageren, krummen Beinen, die seit dem Gelenkrheumatismus etwas lahmen, ganz gemächlich ins Landschaftszimmer, indem er sich mit der Hand die kahle Stirne reibt.

"Donnerwetter, Kinder", sagt er, "das hätte ich beinahe vergessen!"                                                            

"Du hättest es …" wiederholt seine Mutter und erstarrt … 

"Ja, beinah vergessen, daß heut Weihnacht ist … Ich sitze und lese … in einem Buch, einem Reisebuch über Südamerika … Du lieber Gott, ich habe schon andere Weihnachten gehabt …" fügt er hinzu und fängt mit der Erzählung von einem Heiligen Abend anzufangen, den er zu London in einem Tingeltangel fünfter Ordnung verlebt.

Er schildert die äußerst freizügig bekleideten wunderhübschen Mädchen, die sich auf den Schoß der männlichen Gäste setzen und ihnen mit Champagner zuprosten. Völlig ungeniert lassen sie sich von den Herren berühren, scherzen und lachen. Die ausgelassene Feier dauert mit Gesang, Alkohol und anderen Ausschweifungen bis zum frühen Morgen.

Die Konsulin wirft ihm eine vernichtenden Blick zu, daß er es wagt, den Heiligen Abend mit einer derartig unpassenden schlüpfrigen Geschichte zu entweihen. Plötzlich beginnt jedoch die im Zimmer herrschende Kirchenstille auf Christian zu wirken, so daß er mit krausgezogener Nase und auf den Zehenspitzen zu seinem Platz geht.

"Tochter Zion, freue Dich!" singen die Chorknaben, und sie, die eben noch da draußen so hörbare Allotria getrieben, daß die Konsulin sich einen Augenblick an die Tür hatte stellen müssen, um ihnen Respekt einzuflößen, – sie singen nun ganz wunderschön. Diese hellen Stimmen, die sich, getragen von den tieferen Organen, rein, jubelnd und lobpreisend aufschwingen, ziehen aller Herzen mit sich empor, lassen das Lächeln der verbitterten Jungfern milder werden und machen, daß die alten Leute in sich hineinsehen und ihr Leben überdenken, während die, welche mitten im Leben stehen, ein Weilchen ihre Sorgen vergessen.

Christian denkt bei den hellen Stimmen an die jungen Mädchen, die im Internat für das Weihnachtsoratorium proben. Immer wieder ist er im Vorübergehen am Fenster der Klosterkapelle stehengeblieben, um den kleinen Engeln zuzuhören. Richtig warm ums Herz ist ihm dabei geworden als Zeuge der Vermählung von so viel unschuldiger Schönheit mit derart kunstvoll gesetztem Wohlklang.

Hanno läßt sein Knie los, das er bislang umschlungen gehalten hat. Er sieht ganz blaß aus, spielt mit den Fransen seines Schemels und scheuert seine Zunge an einem Zahn, mit halbgeöffnetem Munde und einem Gesichtsausdruck, als friere ihn. Dann und wann empfindet er das Bedürfnis, tief aufzuatmen, denn jetzt, da der Gesang, dieser glockenreine a-cappella-Gesang die Luft erfüllt, zieht sein Herz sich in einem fast schmerzhaften Glück zusammen. Weihnachten … Durch die Spalten der hohen, weißlackierten, noch fest geschlossenen Flügeltür dringt der Tannenduft und erweckt mit seiner süßen Würze die Vorstellung der Wunder dort drinnen im Saale, die man jedes Jahr aufs neue mit pochenden Pulsen als eine unfaßbare, unirdische Pracht erharrt … Was würde dort drinnen für ihn sein? Das, was er sich gewünscht hat, natürlich, denn das bekommt man ohne Frage, gesetzt, daß es einem nicht als eine Unmöglichkeit zuvor schon ausgeredet worden ist.

Christian überlegt, ob er sich in dieser wunderbaren Nacht auch etwas wünschen soll. Vielleicht ein trautes Stelldichein am Mühlenwall? Es ist ja schließlich das Fest der Liebe, das heute gefeiert wird.

Die Konsulin aber schreitet langsam zum Tisch und setzt sich inmitten ihrer Angehörigen auf das Sofa, das nun nicht mehr wie in alter Zeit unabhängig und abgesondert vom Tische da steht. Sie rückt die Lampe zurecht und zieht die große Bibel heran, deren altersbleiche Goldschnittfläche ungeheuerlich breit ist. Dann schiebt sie die Brille auf die Nase, öffnet die beiden ledernen Spangen, mit denen das kolossale Buch geschlossen ist, schlägt dort auf, wo das Zeichen liegt, daß das dicke, rauhe, gelbliche Papier mit dem übergroßen Druck zum Vorschein kommt, nimmt einen Schluck Zuckerwasser und beginnt, das Weihnachtskapitel zu lesen.

Sie liest die altvertrauten Worte langsam und mit einfacher, zu Herzen gehender Betonung, mit einer Stimme, die sich klar, bewegt und heiter von der andächtigen Stille abhebt. "Und den Menschen ein Wohlgefallen!" sagt sie. Kaum aber schweigt sie, so erklingt in der Säulenhalle dreistimmig das "Stille Nacht, heilige Nacht", in das die Familie im Landschaftszimmer einstimmt. Man geht ein wenig vorsichtig zu Werke dabei, denn die meisten der Anwesenden sind unmusikalisch, und hie und da vernimmt man in dem Ensemble einen tiefen und ganz ungehörigen Ton … Aber das beeinträchtigt nicht die Wirkung dieses Liedes …

Weihnachtslieder, die Weihnachtsbotschaft, alles hallt wieder von Liebe, Freude und Frieden, aber sind die Menschen hier wirklich von diesem Geheimnis erfüllt oder denken sie nicht alle nur wie Christian an ihre kleine Welt, in die sie sich am liebsten zurückziehen möchten?

Und dann die Bescherung.  Alle Erwachsenen bewundern gebührend das Geschenk der Konsulin für ihren Enkel Hanno, ein großes Puppentheater mit Bühne, beweglichen Kulissen und Figuren.  "Donnerwetter, das ist drollig!" sagt Christian, indem er den Vorhang des Theaters auf- und niederzieht und einen Schritt zurücktritt, um das szenische Bild zu betrachten. "Hast Du Dir das gewünscht? – So, das hast Du Dir also gewünscht", sagt er plötzlich, nachdem er eine Weile mit sonderbarem Ernst und voll unruhiger Gedanken seine Augen hat wandern lassen. "Warum? Wie kommst Du auf den Gedanken? Bist Du schon mal im Theater gewesen?… Und nun willst Du das nachmachen, wie? nachahmen, selbst Opern aufführen?… Hat es solchen Eindruck auf dich gemacht?… Hör' mal, Kind, laß Dir raten, hänge deine Gedanken nur nicht zu sehr an solche Sachen … Theater … und sowas … Das taugt nichts, glaube Deinem Onkel. Ich habe mich auch immer viel zu sehr für diese Dinge interessiert, und darum ist auch nicht viel aus mir geworden. Ich habe große Fehler begangen, mußt Du wissen …"

Er hält das seinem Neffen ernst und eindringlich vor, während Hanno neugierig zu ihm aufsieht. Dann jedoch, nach einer Pause, während welcher in Betrachtung des Theaters sein knochiges und verfallenes Gesicht sich aufhellt, läßt er plötzlich eine Figur sich auf der Bühne vorwärts bewegen und singt mit hohl krächzender und tremolierender Stimme: "Ha, welch gräßliches Verbrechen!" worauf er den Sessel des Harmoniums vor das Theater schiebt, sich setzt und eine Oper aufzuführen beginnt, indem er, singend und gestikulierend, abwechselnd die Bewegungen des Kapellmeisters und der agierenden Personen vollführt.

Hinter seinem Rücken versammeln sich mehrere Familienglieder, lachen, schütteln den Kopf und amüsieren sich. Hanno sieht ihm mit aufrichtigem Vergnügen zu. Nach einer Weile aber, ganz überraschend, bricht Christian ab. Er verstummt, ein unruhiger Ernst überfliegt sein Gesicht, er streicht mit der Hand über seinen Schädel und an seiner linken Seite hinab und wendet sich dann mit krauser Nase und sorgenvoller Miene zum Publikum.

"Das Theater ist ein Unglück! Vielmehr die Damen des Theaters können Männer ins Verderben stürzen." Ohne weitere Erklärungen wendet sich Christian ab und eilt verstört auf sein Zimmer.

Die Erinnerungen an Marie, seine erste große Liebe am Stadttheater, überwältigen ihn. Das blutjunge Ballettmädchen hat es dem Studenten sofort angetan, seit er sie einmal tanzen gesehen hat. Die Abende im Theater sind die unschuldigsten Augenblicke seiner sehnsüchtigen, ihn fast verzehrenden Liebe gewesen. Stundenlang hat er nach jeder Vorstellung mit einem Blumenstrauß in der Hand an der Bühnentüre gewartet.

Anfangs hat Marie den hageren Jüngling kaum beachtet und ist, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, mit ihren Kolleginnen scherzend an ihm vorbeigegangen. Doch eines Abends, knapp vor Weihnachten schaut sie ihm tief in die Augen, nimmt den Strauß lächelnd entgegen, hängt sich in ihm ein und sagt herausfordernd: "Komm, laß uns zu mir gehen!"

In ihrem winzigen Dachzimmer, das fast zur Gänze von einem großen Bett ausgefüllt wird, angekommen, bleibt Christian keine andere Möglichkeit, sich niederzusetzen als die Liegestatt.

Marie stößt ihn spielerisch auf das Bett und befreit ihn mit geschickten Fingern von seinen Straßenkleidern.

In Hemd und kurzen Unterhosen sitzt er da und bestaunt mit offenem Mund, wie sich das erste Mal eine Frau vor ihm auszieht. Nie hätte er gedacht, welch süßen Geruch die helle unverhüllte Haut des Mädchens ausströmt, erstmals sieht er die durch jahrelanges hartes Training gestählten nackten schlanken Arme und Beine einer Tänzerin.

Der Blick auf den kleinen festen Busen raubt ihm beinahe den Verstand. Marie spreizt ihre Beine weit für ihn und er kann es kaum glauben, als sie sich ihm nähert, ihn leidenschaftlich küßt und ihn zum Mann macht.

Diese Nacht wird Christian nie vergessen!

Doch sein Vater weiß die unstandesgemäße Liebschaft mit einem Scheck an das Mädchen zu beenden. In der Zeitung hat Christian Jahre später gelesen, daß Marie in der Hauptstadt große Karriere gemacht hat.

 

 

 

Bearbeitung des Weihnachtskapitels aus Thomas Mann, Buddenbrooks.

 

 

 

 


Kommentare

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