Schlaflos in Giesing - S01E01
Kurt-Egon Hammerstein, ein kleiner, grauhaariger Mann von hagerer Gestalt, und einem Schnurrbart, der Jean Putz rot vor Neid hätte werden lassen, arbeitete nun schon seit 22 Jahren beim Giesinger Stadtanzeiger als Karikaturist, und niemals während dieser langen Zeit, nein nicht eine Minute, hatte er jenes Engagement bereut.
Seine langen,dünnen Finger bearbeiteten oft stundenlang das ebenso zarte wie empfindliche Zeichenpapier und all seine Kollegen, ja auch die Jungen, bewunderten die unbändige Kreativität des doch mittlerweile älteren Mannes, wie er dort einsam und allein in seinem Zimmerchen, im Dachgeschoss saß und immer unaufhörlich neue Ideen zu Blatt brachte.
Seit die Löwen abgestiegen waren, stand nicht einmal mehr dieses Hobby, diese Leidenschaft zwischen ihm und dem Tuschestift, denn sich in ein halbleeres Stadion zu hocken und einer wild zusammengewürfelten Truppe von Legionären beim Verlieren zu zuschauen, dass entsprach nicht dem Ideal, das er sich zu seiner Lebensmaxime gemacht hatte.
Doch auch außerhalb des Fußballs, in seinem Privatleben, war von dem einstigen Euphemismus, der sein Leben bis dahin wie eine sanft gleitende Wolke getragen hatte, kaum mehr etwas zu spüren.
Seine Frau hatte ihn vor nun schon mehr als 10 Jahren verlassen, sein einziger Sohn war Insasse der JVA Stadelheim (nach ein paar "völlig legalen" Immobiliengeschäften) und manchmal fragte er sich, warum er Abends überhaupt noch in seine leere Souterrainwohnung in der Tegernseer Landstraße zurückkehrte.
Es war mal wieder ein verregneter Nachmittag, die alte Kuckucksuhr aus dunklem Eichenholz in der Ecke zeigte jetzt 16.55 Uhr an und die meisten aus der Redaktion waren schon vor einer guten halben Stunde in ihr wohlverdientes Wochenende entschwunden.
Auch Kurt-Egon beschloss schweren Herzens den Stapel mit halb vollendeten Zeichnungen für zwei Tage zu verlassen und sich mit Peter-Alexander-Schallplatten und einer Best-of-DVD der lustigsten Sketche von Herbert und Schnipsi durch ein weiteres tristes Wochenende zu retten.
Seufzend nahm er die Leine von seinem Rauhaardackel Melchior unter den Arm und stieg die schmale Holztreppe hinab, nicht ohne sich vorher noch seine Wurzelholzpfeife mit einem Feierabendtabak zu stopfen.
Er hatte schon fast das Erdgeschoss erreicht, da kam ihm Gustl, der Chefredakteur des Giesinger Stadtanzeigers, verschwitzt und mit roten Backen auf der Treppe entgegen.
"Du Kurti, gut, dass ich dich noch erwisch!", keuchte er. "Ich muss dich warnen!"
Kurt-Egon verstand nicht ganz. Wovor sollte er denn noch Angst haben? Und warum kümmerte sich der Chef plötzlich um ihn? War es doch kein Geheimnis, dass er beim Verleger um eine Abschaffung der Karikaturseite plädierte.
"Weiß'd Kurti...", begann Gustl abermals, der immer noch völlig außer Atem war. "...da beim Grünwalder, da ist doch heute dieses Dingens!" Und Kurt-Egon erinnerte sich. Erst letztens hatte er eine Karikatur darüber gezeichnet.
"Die sind völlig verrückt, ich würd dir nicht wünschen, dass du da dazwischen kommst!", sagte Gustl und es klang fast ängstlich. "Ein alter Mann, wie du!"
Da wurde es Kurt-Egon zu bunt. "So alt bin ich noch gar nicht!", entgegnete er barsch und schob sich an Gustl vorbei. Melchior bellte.
"Du rennst in dein Verderben!", rief ihm der Chef noch hinterher.
Kurt-Egon winkte ab. "Bin ja nicht so ein Schlaffi wie du!", murmelte er leise.
Seit die Staatsregierung in Bayern das Betreuungsgeld, die sogenannte "Herdprämie" eingeführt hatte, war nichts mehr wie zuvor.
Die ursprünglich in der Ukraine gegründete Aktivistinnengruppe "Femen" hatte in den Freistaat expandiert und dort regen Zulauf erhalten.
Eine fast dreistellige Anzahl Frauen, vorwiegend Studentinnen, stürmte nun regelmäßig jede halbwegs relevante öffentliche Veranstaltung oder rief zu Demonstrationen in der Innenstadt und den verschiedenen Stadtvierteln auf.
Heute hatten sie das altehrwürdige Grünwalder Stadion im Auge, wo ein Benefizspiel zu Ehren des 97. Geburtstags von Franz-Josef Strauß stattfand, bei dem unter anderem der Innenminister und der Oberbürgermeister der Stadt München teilnahmen.
Und genau an dieser Lokalität vorbei führte der Heimweg von Kurt-Egon Hammerstein, der mittlerweile schon auf Höhe Candidplatz war und sich wohl nicht in seinen kühnsten Träumen vorstellen hätte können, was ihm schon in wenigen Minuten widerfahren würde.
Melchior bellte erregt, als er die Menschenmassen wahrnahm, die dort den Vorplatz des Stadions, aber auch die Straße selbst bevölkerten.
Tausende Polizisten in grünen Ganzkörperanzügen, mit schwarzen Gummiknüppeln bewaffnet säumten den Straßenrand.
Und dazwischen, Kurt-Egon traute seinen Augen kaum, marschierten etwa hundert junge Frauen – nackt! Vollkommen nackt.
Nur hier und da hatte sich die ein oder andere etwas Farbe oder eine verwischte Botschaft auf die blanke Haut geschmiert.
Nichtsdestotrotz sah man alle intimen Stellen fast völlig unverdeckt, so dass sich unter die vielen Polizisten auch Schaulustige, vor allem Männer gemischt hatten.
Auch Kurt-Egon konnte nicht verhehlen, dass der Anblick ihn kaltlies, angenehm erwärmt, musterte die seltsam anmutende Szenerie.
Besonders aber zog ihn der wilde Gesichtsausdruck an, den die meisten jungen Damenhatten, dieses kühne Lächeln, diese herauspeitschende Wut, diese Freiheit keine Angst vor Nichts und Niemanden zu haben; waren es nicht auch solche Frauen, die ihn früher, in seinen jungen Jahren angezogen hatten?
Damals die Blumenmädchen in San Francisco, war das nicht dieselbe Idee gewesen? Diese Idee anders zu sein, für seine Individualität zu kämpfen, dagegen sein, manchmal schon um des Dagegenseins Willen!
Er erinnerte sich zurück, 1968 das Konstantin-Wecker-Konzert, längst vergessen im Schutt unbrauchbarer Erinnerungen.
Vielleicht sollte er noch näher herangehen? Aber Melchior wurde schon unruhig.
Da passierte es plötzlich:
Eine kleine Gruppe der Mädchen brach aus, durchschlug den hilflosen Ring aus Hütern und Gaffern und kam – oh schreck! - direkt auf Kurt-Egon zu.
Ihre Anführerin, ein schlankes, blondes Mädchen mit blauen Augen brüllte: "Freedom" und sprang direkt vor Kurt-Egon, so dass Melchior erschreckt zu kläffen begann.
Sie hätte ein Engel sein können, wäre da nicht die blaue Farbe auf ihren makellosen Körper und der fast geifernde Blick gewesen, mit dem sie den Armen musterte.
Ihm verschlug es vor Angst glatt die Sprache, erschreckt versuchte er rückwärts zu gehen, aber es war zu spät, die restlichen Frauen hatten ihn schon umzingelt.
Ihre Rädelsführerin sah ihn unverändert aggressiv an. Sein Blick verfing sich trotz aller Furcht und Peinlichkeit auf ihrem Körper: Die Brüste waren wie zwei reife Äpfel, prall, mit steif abstehenden Nippeln.
Als er weiter nach unten blickte, fiel ihm auf, dass sie wohl schon länger bei solchen Aktionen mitmachen musste, ihr Intimbereich wurde größtenteils von einem blonden Busch verdeckt, der nur einen spärlichen Blick auf den Ansatz von Schamlippen zuließ.
Lange stand er so da, sie musternd und hoffte schon es war überstanden, sie würden vielleicht zurück zur Hauptgruppe gehen, da bewegte sie sich plötzlich ruckartig vorwärts, sprang, schlang die Oberschenkel um ihn und küsste ihn auf den Mund.
Er roch Schweiß und Alkohol. Der säuerliche Geruch vermischte sich mit dumpfer Feuchtigkeit, als ihre Haare in sein Gesicht baumelten.
Kurt-Egon hatte Mühe stehen zu bleiben, er taumelte unter ihrem Gewicht und griff in seiner Not nach vorne. Seine Hände klatschten auf ihre Pobacken und drückten ihren Unterleib gegen den seinen. Wenigstens hatte er so erreicht , dass die Schwere nun gleichmäßig auf Arme und Rücken verteilt war. Er hatte die Hoffnung so wenigstens kurz stehen bleiben zu können.
Aber nun hatte er ein anderes Problem. Sein mittlerweile espensteifes Glied drückte gegen Hose und das Genital des Mädchens. Sie hatte es jetzt wohl auch bemerkt, zumindest nahm sie ihre Zunge aus seinem Mund und blickte halb überrascht, halb angeekelt nach unten.
Gerade wollte sie etwas sagen, da wurde sie plötzlich zu Boden gerissen.
Die Polizisten, die hatte er ja ganz vergessen! Zwei Beamte drückten die junge Frau zu Boden, verdrehten ihr die Arme auf dem Rücken, so dass sogar Kurt-Egon die Knochen knacken hörten und hoben sie auf.
Er erwachte aus seiner Starre. Die jungen Frauen um ihn waren längst abgehauen.
Verwirrt folgte er den Polizisten. Sie schleppten das Mädchen zu einem Fahrzeug in einer Nebenstraße.
Tränen rannen ihr vom Gesicht, Kurt-Egon war sich nicht sicher ob vor Schmerz oder vor Scham, jedenfalls tat sie ihm mittlerweile fast Leid. Ihre Attacke war zwar überraschend gewesen, aber nach dem ersten Schreck nicht unbedingt das unangenehmste was er je erlebt hatte.
Täuschte er sich oder lächelten die beiden Ordnungshüter, zwei junge Kerle, verschmitzt als sie das Mädchen in den Wagen luden?
Die Tür knallte und auch die beiden Polizisten stiegen ein.
Doch das Polizeiauto fuhr nicht los, es stand weiter still und unbewegt da. Langsam kam ihm die Geschichte komisch vor. Aber was sollte er tun? Die Polizei rufen?
Fortsetzung folgt bei erfolgreichem Überspringen der Vier-Punkte-Hürde... (Nein, das ist keine Erpressung ;) )
Kommentare
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