Lindenstraße Teil 1
„Also dann bis heute Abend bei Alfredo. Ich hol Dich um 19:00 Uhr ab!“ „Okay tschüss Süße, bis dann!“ Helga legte auf. Sie hatte noch genügend Zeit sich für den heutigen Abend fertig zu machen. Noch zwei Stunden bevor ihre Tochter Annina sie abholen würde.
Seit den letzten drei Jahren waren solche Anrufe normal. Helga und ihrer Tochter unternahmen viel gemeinsam.
Die letzten drei Jahre!
So lange war sie nun schon von Jürgen geschieden.
Jürgen!
Dieses Schwein! Er hatte es geschafft ihre geliebte Tochter aus dem Haus zu treiben.
Jürgen!
Er hatte ihr so oft weh getan. Nicht nur körperlich was die Ausnahme war.
Nein!
Vielmehr seine zu tiefst beleidigende Art war es, die sie Stück für Stück zersetzt hatte.
Ihre aufrichtige Liebe mit Füßen tretend. Jeden Abend diese perverse Show des Hasses.
Eine perfekte Familie wollten sie sein.
Ja! Nach außen. Da sah alles wunderbar aus. Das tolle Haus, teures Auto, gespielte Idylle bei Festen. Aber drunter? Hinter den Kulissen?
Eine Freakshow die mit jedem Tropfen Alkohol ausartete.
Du musst zu ihm stehn! Die Familie! Alles wird einmal besser werden!
Denkste!
Mit jedem Jahr wurde es schlimmer. Annina hatte nie ein Blatt vor den Mund genommen und dies mit mancher Ohrfeige bezahlt. Aber sie war frei. War es immer gewesen.
Frei!
Das war Helga jetzt auch.
Frei!
Ihr eigenes Leben bestimmend.
Frei!
Mit jeder Pore das Leben da draußen inhalierend.
Stolz!
Stolz war sie auf ihre Tochter.
Stolz!
Stolz darauf dass dieses zarte Wesen mehr Mumm in den Knochen hatte als sie selbst.
Stolz aber auch auf sich! Denn sie hatte den Absprung geschafft!
Seit ihrer Scheidung stand Annina an ihrer Seite. Hatte den Umzug in die kleine Wohnung organisiert. Mit ihren Freunden. Nahm ihre Mutter an die Hand.
Ein neues Leben!
So sehr Helga an dem Haus und dem Garten hing, so sehr waren doch die Gedanken an all das Leid verbunden.
Nein! Um keinen Preis wollte sie wieder dahin zurück. Sie genoss das neue Leben. Mitten in der großen Stadt. In der Nähe zu dem Verlag wo sie arbeitete.
In der Nähe zu ihrer geliebten Tochter, der sie so viel zu verdanken hatte.
So vieles hatte sich verändert.
Annina brachte sie auf andere Gedanken.
Nein!
Sie hatte bei dem Programm, was Annina ihr auferlegte, gar keine Zeit an früher zu denken.
Während Helga früher brav auf der Couch saß und sich das Gezetere des Ehemanns anhören musste, hatte ihre Tochter ihr nun eine Kur verpasst.
Alles was einer geschundenen Seele gut tat, stand nun auf dem Tagesprogramm.
Angefangen mit Shoppingtrips in die Altstadt über gemeinsame Clubabende bis hin zu einer Mitgliedschaft im Fitnesscenter. Nicht das Helga unansehnlich gewesen wäre. Nein.
Aber zeigten ihr die vielen Stunden beim Sport und der viele Schweiß doch was sie an sich ändern konnte. Auf jeden kleinen Erfolg war Helga stolz.
Hörte sie damals von Jürgen nur wie schlimm sie aussah, hatte sie nun ein völlig neues Selbstwertgefühl. Nicht nur der Sport veränderte sie, nein, auch die neuen Klamotten die Annina ihr verpasste trugen dazu bei, aus Helga einen neuen Menschen zu machen.
Aber alles Äußere wirkte nicht so viel, wie das ihre Tochter ihr zeigte, daß sie ein liebenswerter Mensch war.
Wenn sie abends gemeinsam ausgingen, kam es vor das man sie für Schwestern hielt. Auch wenn das von manchem Charmeur bewusst gelogen war, so tat es doch unheimlich gut.
Es blieb natürlich nicht aus, daß Helga ab und zu von einem jungen Verehrer umschwärmt wurde. Und nicht nur einmal endete ein schöner Abend in ihrem oder seinem Schlafzimmer.
Helga nahm so ziemlich alles mit. Ihre Tochter schleifte sie zu ihrem Coiffeur, der ihr die neueste Trendfrisur verpasste. Klamottentechnisch war sie sie voll am Puls der Zeit.
Waren auch manche Sachen zu gewagt, so passten sie doch wenigstens zu ihrem gefühlten Alter. Das lag mindestens zehn Jahre unter ihrer eigentlichen Dreiundvierzig.
Gelegentliche Besuche im Solarium rundeten ihr Wohlbefinden ab.
Alfredo war das Sprungbrett, der Startblock für heiße Nächte. Hier traf sich Helga öfters mit ihrer Tochter, aber auch mit ihren jüngeren Kollegen die oftmals mit von der Partie waren.
Hier wurde in lockerer Atmosphäre gegessen und danach ging's in die heißesten Läden der Stadt. Auch diesmal wieder.
Annina holte ihre Mum pünktlich ab. Bei Alfredo war schon full House, aber sie hatten glücklicher Weise einen Tisch bestellt. Wie immer wenn's am Wochenende auf Piste ging.
„Hi Mum, ich bin's, Annina!“, hörte Helga die Stimme in der Gegensprechanlage. Sie drückte den Türöffner und ließ die Wohnungstür angelehnt. Nach kurzer Zeit hielt Helga ihre Tochter im Arm und beide herzten sich innigst.
„Wow, hast Du Dich wieder aufgebretzelt!“, lobte Annina das Aussehen ihrer Mutter. „Da scheint's mir doch wieder so, daß Du heute Nacht mal wieder nicht allein nach Hause gehst!“, neckte Annina.
Beide genehmigten sich einen Prosecco und dann ging's auch schon auf die Piste. Es wurde ein wunderschöner Abend und es sollte sich zeigen, daß Annina mit ihren Prophezeiungen nicht falsch lag.
Trotz dass Helga immer mehr aufblühte, merkte Annina doch die Scham die sie immer noch hatte, wenn sie sich vor anderen ausziehen sollte. Besonders bemerkte sie die Unsicherheit nach dem Training wenn es ans Duschen ging. Waren noch mehr Frauen in der Dusche war es ihr sehr anzusehen.
Ihre Scham schien tief verwurzelt und rührte vielleicht noch aus ihrer Erziehung her. Annina versuchte mit ihr darüber zu reden. Erst beschwichtigte sie ihre Tochter, doch später gestand sie ihr das sie in dieser Hinsicht sehr unsicher war. Sie hatte starke Probleme sich nackt vor anderen Menschen zu zeigen. Annina versuchte ihr klar zu machen, daß sie sich mit ihrem Körper nicht zu verstecken bräuchte. Doch das half nicht viel. Helga wusste zwar das diese Komplimente nicht gelogen waren, doch saß die Unsicherheit zu tief.
Als die Beiden mal wieder in der Stadt am shoppen waren, musste Helga doch irgendwann passen. Das ganze überschritt nun allmählich ihren finanziellen Spielraum. Als die Kaufwut ihrer Tochter abgeflaut war und beide bei einer Latte Macchiato in ihrem Lieblingscafe saßen, fragte Helga ihre Tochter wie sie sich das als Studentin alles leisten konnte.
„Naja, ich hab Dir ja schonmal erzählt das ich ab und zu als Fotomodel arbeite!“, sagte Annina. „Ja, das hast Du mal am Rand erwähnt, dachte das war nur mal kurz. Machst Du das immer noch?“ fragte ihre Mutter nun sichtlich interessiert.
„Nhhh, jaa, schon, eigentlich schon ab und zu!“, druckste Annina nun rum.
„Nun lass Deine Mutter nicht dumm sterben. Muss ja was Lukratives sein. Erzähl schon!“, ließ Helga nun nicht locker.
„Sind's Nacktaufnahmen? Isst doch nichts Schlimmes. Du kannst es Dir doch leisten!“, versuchte Helga nun zu orakeln. „Ja, eigentlich schon. Was heißt eigentlich. Es sind Nacktaufnahmen. Aber nicht gewöhnliche!“, kam es nun aus Annina heraus.
„Du machst doch nicht,...Pornos,...oder so!“
„Nein, keine Pornos. Es ist nur,... nur etwas außergewöhnlich!“
„Außergewöhnlich? Keine Pornos? Nun rück schon raus mit der Sprache. Ich werd's überleben!“, bohrte Helga nun weiter.
Nun war es Annina die sich ein wenig verklemmt benahm. Aber wusste sie doch um die Brisanz ihrer Arbeit und wollte ihre Mutter nicht gleich voll schocken.
„Es sind Outdooraufnahmen!“, platzte es nun aus Annina heraus. „Nicht ganz also...“
„Outdoor ist doch nichts Schlimmes!“ kam es nun von ihrer Mutter.
So konnte die Sache nicht weiter gehen. Annina musste ihrer Mutter nun reinen Wein einschenken.
„Okay, wir haben ja keine Geheimnisse voreinander!“, bereitete Annina nun die kommende Beichte vor. Helga staunte angesichts dieser Worte noch mehr was nun kommen würde.
„Ich mache nude-in-public Aufnahmen!“, platzte es nun aus ihr heraus.
Als würde Helga von einer neuen Küchenmaschine hören, die Herd, Backofen, Microwelle und Geschirrspüler ersetzte, schaute sie ihre Tochter fragend an.
„Also das bedeutet, ich mache, okay es geht darum, daß ich mich fotografieren und filmen lasse, während ich nackt in der Öffentlichkeit umher laufe!“
Bumm, nun war es raus! Stille! Ein Räuspern!
„Naja, Du läufst also in Parks oder an entlegenen Orten!“, versuchte Helga nun etwas betreten zu kommentieren.
„Ja, anfangs schon. Also, das heißt, manche Aufnahmen fangen so an. Das ist aber noch das Harmloseste!“, erwiderte Annina nun schon mutiger. Sie hätte nie gedacht, wo ihr doch die Aufnahmen kaum noch etwas ausmachten, sich einmal so schwer zu tun, darüber zu reden.
Doch nun wollte sie nichts mehr hinterm Berg lassen.
„Die meisten Aufnahmen finden direkt in der Fussgängerzone statt!“, offenbarte sie sich nun.
„Du meinst, Du, ähm, Du läufst nackt durch die Fussgängerzone?, fragte Helga nun doch etwas schockiert. „Und das mach Dir nichts aus? Ich, ich meine, Dich kann ja jeder sehen!“
„Ja, das ist Sinn der Sache!“, antwortete Annina nun leicht schmunzelnd.
„Boah, ich, also ich würde mir das nicht trauen. Das ist ja voll krass. Wie kommt man denn dazu?, wollte Helga nun wissen.
Und so fing Annina zu erzählen an. Wie sie Frank, den Fotografen kennen lernte. Als er ihr von seinem neuen Projekt erzählte, wo sie wie geschaffen dafür wäre. Von den ersten Probeaufnahmen in verlassenen Gegenden, Von den ersten Aufnahmen in belebten Fussgängerzonen. Das sie irgendwann, als eines der wenigen Models mit dem Hinweis „nip“ in ihrer Setcard sich vor Aufträgen kaum retten konnte. Von den inzwischen vier Agenturen, die solche Internetseiten betrieben und sie regelmäßig buchten.
„Ich hab die Aufnahmen auf meinem Laptop. Kann ich Dir ja mal zeigen!“, sagte Annina nun ziemlich befreit.
Und so zeigte sie ihrer Mutter, womit sie nebenher etwas dazu verdiente.
Helga aber, konnte kaum glauben was sie da sah. Das sprengte den Rahmen ihrer Vorstellungskraft. Wie konnte man sich so etwas nur trauen.
Annina, die nun endlich befreit von dieser Last war, machte ihrer Mutter auch gleich einen Vorschlag: „Weißt Du, die Sandra, die ist immer bei meinen Aufnahmen dabei. Läuft in sicherem Abstand und hat meine Sachen dabei. Naja, wenn mal was ist. Polizei oder so. Die kann nächste Woche nicht und ich hab wieder ein Shooting!“, erklärte Annina.
„Wenn Du willst, dann kannst Du ja mal mitkommen!“
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