Sie
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Seit die Dämmerung genügend Deckung bot, saß er wieder auf seinem Ast in der alten Rotbuche. Sein dunkler, langer Umhang ließ ihn mit der Umgebung verschmelzen. Die Position erlaubte den perfekten Blick in Ihre Zimmer. Die großen Fenster spiegelten die letzten hellen Streifen des Horizontes. Er konnte sie beobachten, wie sie langsam in ihr Badezimmer schlenderte. Das Rauschen des Wassers würde gleich ihre liebliche Stimme nicht mehr verschlucken. Dann würde er sie endlich wieder leise singen hören können. Welches Badeöl benutzt sie heute? Ah, Veilchen, sein Lieblingsduft. Lavendel war auch nicht schlecht, doch drang dessen starkes Aroma fast schon schmerzhaft in seine empfindliche Nase. Die viel zartere Note des Veilchens schmeichelte dagegen seinen Empfindungen. Eine neue Wolke des Duftes zog durch die Blätter der Buche. Sie hatte wieder überall Kerzen in den Zimmern verteilt, auch im Bad. Das flackernde Licht umspielte ihren hüllenlosen Körper wie eine zweite Haut. Das Plätschern verstummte, sie summte leise die Melodie aus dem CD-Players mit. Die Fenster der kleinen Wohnung im ersten Stock der Gründerzeitvilla besaßen keine Gardinen, wozu auch, wer sollte vom Park her schon hereinschauen. Die hohe Mauer und das Eisentor erlaubten Fremden keinen Zutritt zum weitläufigen Grundstück. Unbefangen beugte sie sich leicht nach vorn, hielt sich am Wannenrand fest, stieg in das warme Wasser. Die nächsten Minuten würde er nur ihre hochgesteckten blonden Haare sehen können. Doch er konnte immerhin noch ihren betörenden Duft, der in feinen Schwaden herüberzog, genießen.
Gedankenverloren folgte sein Blick einer Amsel, die ahnungslos an seinem Versteck vorbei flog. Wie lange wollte er sich das noch antun? Fast jeden Tag hier auf dem Ast sitzen und durch die erleuchteten Fenster zu ihr hinüber schauen? Es war doch sonst nicht seine Art, sich selbst so zu kasteien. Er schaute auf den Ast unter sich, die Rinde war schon abgescheuert von seinen vielen Besuchen auf dem Baum.
Warum saß er also immer wieder hier? Nur darum, weil sie ihn so an Esmeralda erinnerte, seine große Liebe? Oder weil sie so betörend duftete. Wie würde sie wohl schmecken?
Heute in der Bibliothek saß er ganz nah bei ihr. Seine geblähte Nase hatte ihren Körpergeruch gierig aufgesaugt, seine messerscharfen Augen die perfekte Gestalt aus den Augenwinkeln taxiert. Warum nahm er sich nicht einfach, was ihn so erregte? Es wäre ein Leichtes für ihn, sie einfach zu besitzen, sie sich zu nehmen. So wie die nach Zigaretten stinkende Kleine vor drei Tagen, die er sich genommen hatte. Er hatte Durst gehabt, sie war im falschen Moment am falschen Platz.
Eine leichte Beute, obwohl sie mit Karate eine Verteidigung versuchte und ihm auch Pfefferspray ins Gesicht sprühte. Sie hatte ihm nichts entgegen zu setzen. Ob sie jemand vermissen würde? Es würde sie jedoch keiner finden, dafür hatte er gesorgt. Wie immer. Es war sein erstes und einziges Gebot: Keine Spuren nach der Jagt hinterlassen. Alles musste sauber ablaufen, keine Sauerei hinterlassen, wie es einige seiner Zunft immer noch taten. Sie hatten noch nicht begriffen, wie gefährlich das werden konnte.
Da, es plätscherte! Schnell richteten sich seine Augen auf das Badezimmerfenster. Sie begann, sich zu waschen. Ihre Schulter und der Arm erschienen im Fenster. Bald würde er wieder mehr sehen können.
Wie bei Esmeralda. Sie hatte er auch einfach genommen. Doch ihr Geruch und ihre Gestalt hielten ihn davon ab, ihr alles zu nehmen, was sie hatte. Er hatte sie zu seiner Gefährtin gemacht, ihr geholfen, sich an Don Alfredo zu rächen, der sie sich mit vierzehn einfach genommen hatte, am Fluss, als sie Wäsche waschen sollte. Was sollte sie auch dagegen tun? Sie war so schwach und auch sein Eigentum, er konnte mit ihr machen, was er wollte. Dann war sie stark gewesen und er schwach und sie konnte mit ihm machen, was sie wollte.
Mehr als fünfzig Jahre waren sie danach zusammen durch Europa gezogen, immer auf der Suche nach Beute. Doch dann hat sie ihn verlassen, einfach so verlassen.
Dieses Mädchen da in der Wanne, zum Greifen nah, würde er auch fragen, ob sie ihn begleiten würde, für eine lange Zeit, wenn sie es will, für die Ewigkeit. Sie stieg aus der Wanne, das Kerzenlicht brach sich wie in tausend Diamanten in den Wassertropfen auf ihrer Haut. Als Nächstes wird sie nach dem Handtuch greifen. Sie wird es gleich an der Zimmertür achtlos fallen lassen und sich dann die Haut, überall, mit ihrer Lotion eincremen. Er machte einen langen Hals. Das kurz geschnittenen, blonde Dreieck zwischen den Schenkeln schimmerte zu ihm herüber. Mit geschlossenen Augen berührte sie ihre Brüste. Ihre Hände schafften es nicht, sie zu umfassen. In der Mitte der großen dunklen Höfe erhoben sich die Spitzen. Ein Stöhnen der Sehnsucht drang leise aus den roten Blättern des Baumes, erreichte aber ihre Ohren nicht. Wie gern würde er das zarte Fleisch berühren, er verzehrte sich nach ihr. Jetzt stand sie dicht an der Scheibe. Ihre Hände kreisten über den Bauch. Dabei reckte sie ihren Oberkörper nach vorn.
Plötzlich ging sie in das Wohnzimmer. Viel zu früh heute, sie war doch noch nicht fertig! Das Telefon! Wie hatte er das überhören können? Er muss sich besser konzentrieren, nicht unachtsam werden. Er drehte sein Ohr in die Richtung des Mädchens. Genau hörte er ihre Stimme, sie sprach mit ihrer Mutter. Einer der seltenen Anrufe. Obwohl das Fenster geschlossen war, konnte er jedes Wort verstehen. Sie kam auf ihn zu, blieb an der Scheibe stehen und ihre Augen irrten beim Telefonieren durch den kleinen Park. Doch ihre schwachen Augen würden nur noch Silhouetten sehen können, er dagegen sah alles, jeden Zweig, jedes Blatt, ganz deutlich.
Unwillkürlich musste er lächeln über diese Menschen, sie hielten sich für die Krönung der Schöpfung! Lächerlich! Für etwas Besseres, für das Größte, was auf dem Gesicht diesen Planeten herumlief. Doch sie waren schwach, so unendlich schwach, gierig und rücksichtslos. Eigentlich waren sie auch blind und taub, riechen konnten sie sowieso fast nichts. Sie benutzten Parfüm in Mengen, die für ihn tausend Mal zu stark war, sie stanken alle nach dem billigen Zeug und glaubten, sie würden duften. Doch das Mädchen dort benutzte nie Parfüm, sie duftete nach sich selbst, ein reiner, unschuldiger Geruch. Nachher, wenn sie schlief, würde er wieder neben ihr sitzen im Sessel neben ihrem Bett und sie beobachten, ihm ausgeliefert, wehrlos, hilflos.
Doch heute wird er sie sich noch nicht holen, vielleicht morgen oder auch erst übermorgen. Wenn er sie erst hätte und zu einer von seiner Art gemacht hätte, würde sie leider mehr riechen, sie wäre dann geruchlos, wie er selbst. Kein Hund könnte ihrer Spur mehr folgen. Doch er liebte ihren Duft, nach Veilchen, nach einer weiten Blumenwiese, nach ihr, nach Esmeralda.
Irgendwann würde er sie sich holen, er würde ihren Duft von jedem Zentimeter ihrer Haut aufsaugen, er wird sie kosten, er wird sie trinken. Aber er würde sie nicht vernichten! Er wird sich beherrschen, ihr noch ein wenig Leben von ihrem so kurzen Leben lassen, damit sie so werden kann wie er! Wenn sie es will!
Nachdem er sie zu sich geholt haben wird, wird er ihre Haut streicheln, das helle Fleisch berühren, überall. Sie wird erzittern, sie wird sich aufbäumen, stöhnen, schreien! Ihre Haut wird sich zusammenziehen, die kleinen blonden Härchen an den Schenkeln, auf dem Bauch, werden sich aufrichten! Sie wird schwitzen, die Tropfen werden an ihrem Leib herunter laufen, und sie wird duften, duften, duften!
Er wird ihre Schenkel auseinanderdrücken, in sie eintauchen. Er wird völlig bewegungslos auf ihr, in ihr liegen bleiben und sie doch besiegen, wie noch nie eine Frau von ihm besiegt wurde, außer Esmeralda. Esmeralda!
Er wird sie danach fragen, ob sie so werden will, wie er. Ob sie von ihm lernen will, Beute zu machen. Frische, schöne Jünglinge oder auch Frauen, wie sie will. Sagt sie „Nein!“, würde ihre kleine Flamme verlöschen lassen, sie austrinken! Sie würde dann den anderen hunderten folgen, dahin, wo niemand sie je finden wird.
Doch nicht heute! Er wird sie heute nur beobachten, sie riechen im Schlaf, wie gestern und vorgestern und davor. Er wird sie im Morgengrauen lautlos verlassen und am Abend wieder hier auf dem Ast sitzen. Er wird sie sich holen, irgendwann! Sicher! Wie Esmeralda vor vierhundert Jahren.
Kommentare
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