Die Anhalterin
Das erste, was mir auffiel, war ein nackter Arm. Er ragte so auffällig in den schmalen Sandweg zwischen den Kiefern, dass er förmlich eine Schranke zu bilden schien. Er endete in einer zur Faust geballten Hand; der nach oben gestreckte Daumen war eindeutig. Auf der anderen Seite verschwand der Arm hinter einer riesigen Pappe, groß genug, um die Seitenwand einer Kühlschrankverpackung zu sein. Ich wunderte mich einen Moment lang, dass auf der Pappe nichts stand. Anhalter benutzen Pappen doch eigentlich als Schild für ihr Ziel. Doch hier stand nichts außer einem französischen Firmennamen.
Natürlich sah ich nun auch den Kopf, der oben über die Kante der Pappe ragte ... blondes Haar, ein ovales, nicht unbedingt schönes, aber interessantes weibliches Gesicht, auf dem sich Spuren der Verzweiflung malten. Irgendwie war es leicht absurd: eine riesige Pappe, der im Dämmerlicht hell leuchtende Unterarm und der Kopf seltsam unverbunden, und natürlich unerwartet in dieser Einöde.
Ich fuhr langsamer.
"Sollen wir?" fragte ich meine Frau.
Sie antwortete nicht sofort. Inzwischen fuhr ich fast Schritttempo, erreichte die Anhaltern und war fast vorbei.
"Sie ist allein," meinte Tina.
Ich wertete das als Zustimmung. Die Gegend war friedlich; von Überfällen auf Touristen hatten wir hier noch nie gehört. Daher kam mir eine keine Sekunde der Gedanke, die junge Frau könnte ein Lockvogel sein. Zudem war der Kiefernwald um uns herum licht und ohne nennenswertes Unterholz. Ich hielt an, nun etwa sechs bis acht Meter hinter der Anhalterin. Im Rückspiegel sah ich, dass sie scheinbar völlig in dem großen Karton steckte. Dann stieg ich aus. Wenn sie mitfahren wollte, musste sie nach hinten krabbeln, zu meiner Frau. Wir hatten nur einen zweitürigen Mietwagen bekommen, einen älteren Renault, und nach ein, zwei Versuchen hatten wir es aufgegeben, unsere sperrigen Strandsachen jedesmal nach hinten zu packen.
Eigenartigerweise starrte mich die Anhalterin an, als könne sie gar nicht glauben, dass jemand angehalten hatte. Oder als zweifle sie plötzlich an ihrer Absicht.
"Hallo!" rief ich. "Est-ce que vous voulez venir avec nous?"
"Oh ... ", kam die Antwort, so leise, dass ich sie kaum verstand. "English?"
"Yes, I can speak english!"
Doch sie schien meinen Akzent herausgehört zu haben: "Oder sind Sie Deutscher?"
"Ja, sind wir ..."
"Sie sind nicht allein?"
"Nein!" Ich musste fast lachen. "Meine Frau ist hier. Auf dem Rücksitz. Es ist etwas schwierig, da auszusteigen. Nur keine Sorge! Wir tun Ihnen nichts!"
"Oh .. gut! Einen Moment noch, ich komme! Und bitte ... wundern Sie sich nicht! Ich werde es Ihnen erklären!"
Natürlich wunderte ich mich. Ich hatte mich schon über den Karton gewundert, dann über die zögerliche Reaktion ... doch was ich nun zu wundern bekam, schlug das alles um deutliche Längen.
Es zeigte sich, dass die junge Frau tatsächlich vollständig in dem Karton steckte; nur an der Seite war er eingerissen, wo sie den Arm herausgestreckt hatte. Nun wand sie sich hin und her, der Karton wanderte nach oben und flog schließlich zur Seite. Ich traute meinen Augen nicht. In der einsetzenden Dämmerung hier auf dem schattigen Waldweg konnten einem die Dinge schon verändert vorkommen.
Die junge Frau war splitternackt. Barfuß und wie Gott sie geschaffen hatte, kam sie zögernd auf mich zu, ein Zögern, das ich nur zu gut verstand. Ich hatte gewiss nichts Bedrohliches an mir, doch ich war ein Mann, und diese Figur hätte meine Aufmerksamkeit, und mehr, sogar dann erregt, wenn sie in einem Wintermantel gesteckt hätte. Sie war etwa so groß wie ich. Ihr blondes Haar fiel glatt über die Schultern und reichte bis fast zur Hüfte. Ihre Proportionen waren einfach ... sensationell. Lange, schlanke Beine, ein betontes, doch nicht ausladendes Becken, eine schmale Taille und ein Paar kräftig entwickelte Brüste, die eine der hiesigen Charantais-Melonen neidisch gemacht hätten. Ich muss ziemlich dumm aus der Wäsche geguckt haben und konnte nur hoffen, dass sie angesichts ihres Äußeren Verständnis dafür hatte.
Dann stand sie direkt vor mir und ich zwang meinen Blick, mich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, und meine Miene zu einem Lächeln.
"Hallo!" sagte ich. "Ich bin Robert. Das ist meine Frau, Tina."
"Hallo," antwortete sie leise, ohne einen Namen zu nennen.
"Sie ... ähm ... haben offenbar ziemlich wenig Gepäck!"
Auf den schwachen Scherz antwortete sie nur mit einem leichten Nicken, das von einem Aufzucken von Verzweiflung begleitet wurde.
"Steigen Sie doch erstmal ein!" schlug ich vor und trat zu Seite. Die Sitzlehne hatte ich schon nach vorn geklappt. Mit einiger Mühe schob sich die junge, nackte Frau nach hinten.
"Um Gottes Willen! Was ist denn mit Ihnen passiert?" fragte meine Frau nach einer kurzen Begrüßung. Die Anhalterin brach in Schluchzen aus.
Ich hockte mich wieder auf meinen Platz und fuhr los, verzweifelt gegen die Versuchung ankämpfend, den Rückspiegel umzuschwenken. Dass hier etwas nicht in Ordnung war, war klar. Tröstend legte meine Frau den Arm um die Schultern der jungen Frau, die sich willig gegen sie lehnte.
Dann erfuhren wir in Bruchstücken die Vorgeschichte. Julia ... so hieß unser Gast ... war mit ihrem Freund in die Gegend gekommen. Sie zelteten auf einem nahe gelegenen Campingplatz und hatten wie wir den einsamen Strand zum Nacktbaden genutzt. Sie waren schon zwei Wochen da, als es immer häufiger Streit gab, anscheinend immer nur wegen Kleinigkeiten. Heute schien alles zuerst in Ordnung, doch dann am Strand hatte ihr Freund plötzlich wegen eines vergessenen Brots einen Riesenkrach vom Zaun gebrochen. Um dem Gezeter auszuweichen, war sie baden gegangen. Da eine kleine Düne die Sicht auf ihren Lagerplatz versperrte, hatte sie nicht sehen können, dass ihr Freund mit sämtlichen Sachen verschwand. Auf einer wilden Müllkippe hatte sie später zu ihrem Glück den Karton gefunden; splitternackt zu trampen oder gar den weiten Weg zum Ort anzutreten, hätte sie sich nicht getraut.
Es war schwierig, in dem losen, weichen Sand zu fahren, und wir kamen nur langsam vorwärts. Julia lehnte zwar nun an der Schulter meiner Frau und somit direkt im Blickfeld des Rückspiegels, doch die Dämmerung wurde nun rasch zur Nacht, und ich konnte bestenfalls erahnen, was es da zu sehen gab.
Schließlich erreichte ich die erste, geteerte Straße, eigentlich kaum mehr als ein Waldweg, doch immerhin mit festem Untergrund. Der Wagen fuhr ruhiger, und ich konnte es mir leisten, ab und zu einen Blick nach hinten zu werfen. Nachdem Julia ihre Geschichte zu Ende berichtet hatte, wurde es ruhig auf der Rückbank, erstaunlich ruhig sogar. Ich äugte nach hinten. Julia hatte den Kopf auf die Brust meiner Frau gelegt, die ihr durchs Haar strich. Ob die junge Frau noch weinte konnte ich nicht hören, dazu war der Motor zu laut. Ich blickte wieder auf die Straße. Dann bemerkte ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Rückspiegel. Julias nackte Haut glänzte im letzten Licht ein wenig heller als das übrige Wageninnere, und mit leichter Irritation sah ich, dass eine Hand darüber strich, nein, streichelte. Und das wirkte nicht mehr wie das beruhigende Streicheln einer Frau, die eine andere tröstet. Es wirkte wie ein zärtliches Erforschen.
Der Wagen kam fast von der Fahrbahn ab. Außerdem waren wir nun auf der Departementsstraße, und es gab - wenn auch nur vereinzelt - Gegenverkehr. Der Nachteil daran war, dass ich mich auf diesen Verkehr konzentrieren musste. Der Vorteil war, dass die Scheinwerfer der anderen Autos mir etwas Licht gaben, um das Geschehen auf der Rückbank zumindest in kurzen Momenten weiter zu beobachten.
Meine Frau streichelte Julias Rücken, wie sie meinen manchmal streichelte, meistens vor oder nach dem Sex. Ich kannte diese Bewegungen nach elf Jahren Ehe viel zu gut. Und Julias Rücken war nicht das einzige, was gestreichelt wurde. Julias linker Arm war ebenfalls in leichter Hin- und Herbewegung, der Position nach vermutlich auf dem nackten Oberschenkel meiner Frau, die nichts trug aus einer dünnen Bluse und ein paar knappen Shorts. Mit äußerster Überwindung zwang ich meinen Blick zurück auf die Straße. Wieder ein Wagen. Etwas Licht. Julia bewegte den Kopf hin und her. Zupfte sie etwa mit den Lippen durch die dünne Bluse an Tinas Brustwarzen? Es wurde wieder dunkel. Was war das? Tina hatte nie das geringste Interesse an Frauen gezeigt. Sie hatte in der Schulzeit ein völlig missglücktes Erlebnis mit der älteren, offen lesbischen Schwester einer Mitschülerin gehabt. Seither verachtete sie Lesben und wendete sich demonstrativ ab, wenn das Thema irgendwo aufkam.
Ein neuer Scheinwerferstrahl. Hinten war keine Bewegung zu erkennen. Oder doch? Ich traute meinen Augen nicht. Tinas linke Hand lag ruhig auf Julias Rücken, doch nun war die rechte aktiv geworden. Sie umfasste eine der schwer herabhängenden Brüste, knetete und streichelte sie. Der nächste Scheinwerfer. Nun war Tinas Kopf zurückgelehnt, der Mund stand halb offen. Das konnte doch nicht ... Natürlich kannte ich auch diese Haltung. Sie nahm sie ein, wenn sie sich selbst befriedigte. Sollte Julia etwa schon ihre Finger in die kurze, weite Hose geschoben haben? Der nächste Scheinwerfer. Julia wand sich, offenbar auf der Suche nach einer besseren Position. Ihr linker Arm steckte nun eindeutig unter der Bluse meiner Frau, bewegte sich darunter.
Inzwischen war es auch nicht mehr ganz so ruhig. Das flache, erregte Keuchen von der Rückbank übertönte zeitweilig sogar den Motor. Ich überlegte, was ich tun sollte. Einerseits war es ja eine ziemliche Unverschämtheit, was die beiden da trieben. Andererseits störte es mich überhaupt nicht; im Gegenteil, am liebsten hätte ich mitgemacht. Doch wenn ich etwas sagte, egal was, bestand die Gefahr, dass der Zauber des Moments zerplatzte und beide sich wieder darauf besannen, wer und wo sie waren.
Doch dann ging alles sehr rasch. Wir erreichten den Ort, und die Frage, was nun zu tun war, wurde unausweichlich. Als sei nichts gewesen, besprachen die beiden mit mir die nächsten Schritte. Julia sollte zunächst mit uns in unser kleines Ferienhaus kommen. Dort wollte Tina ihr etwas zum Anziehen borgen, und schlafen sollte sie auf der Couch im Wohnraum.
"Auf der Couch – seid ihr sicher?" konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
Tina schaute mich an, als hätte ich ihr den Vorschlag gemacht, mit Julia nackt über die Champs Elyssee zu spazieren. Es blieb tatsächlich bei der Couch. Am nächsten Morgen brachten wir Julia in die Stadt zu Polizei, nachdem wir auf dem Campingplatz festgestellt hatten, dass ihr toller Freund auch von dort abgereist war. Allerdings hatte er ihren Koffer bei dem Platzverwalter gelassen, so dass wir Tinas Kleidung wieder an uns nehmen konnten. Von der Stadt aus wollte Julia dann auch gleich nach Deutschland. Ein Angebot, die übrigen Tage unseres Urlaubs bei uns zu bleiben und dann mit uns zurück zu fahren, schlug sie aus.
Es war gegen Abend, als wir uns am Bahnhof von ihr verabschiedeten. Als der Zug verschwunden war, meinte Tina zu mir: "Du sagst ja gar nichts."
"Was soll ich denn sagen?"
"Ich dachte nur ..."
Was hätte ich auch sagen sollen. Ich kannte meine Frau zu gut. Sie würde es irgendwie abwehren, als Irrtum oder Einbildung hinstellen und anschließend die letzten paar Urlaubstage schmollen. Das wollte ich nicht riskieren. Immerhin stand ich seit dem vorigen Abend unter Strom, und das wollte ich in der kommenden Nacht ändern. Und zwar dringend.
Ich kannte meine Frau doch nicht.
"Übrigens, Julia und ich haben unsre E-Mail-Adressen getauscht. Sobald sie alles geklärt hat bei sich, will sie mal übers Wochenende zu uns kommen. Wenn es dir nichts ausmacht. Dann bringen wir zu dritt zu Ende, was wir gestern angefangen haben ... ohne die Gefahr, dabei im Graben zu landen."
Copyright Nicolas Scheerbarth 2008
Kommentare
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